
„En Marche!“ vielmehr eine Neuordnung des politischen Systems sei, nicht aber Ausdruck einer Krise. Dies zeige allein das „schlechte“ Abschneiden des Front National.
„En Marche!“ vielmehr eine Neuordnung des politischen Systems sei, nicht aber Ausdruck einer Krise. Dies zeige allein das „schlechte“ Abschneiden des Front National.
Und bevor nun die Jubelschreie alles übertönen, vielleicht eine kurze Einschätzung von mir.
Knapp 11 Millionen Menschen haben heute ihr Kreuz bei einer offen rechtsradikalen, rassistischen und chauvinistischen Partei gemacht. Das ist kein Grund zum Feiern. Ebenso sollte jedem Demokraten Angst und Bange werden, wenn in manchen Regionen der Front National die absolute Mehrheit erringen kann. Während Jean-Marie Le Pen 2002 nur einen Prozentpunkt mehr erreichte als in der erste Runde, konnte Marine Le Pen ihr Ergebnis um knapp 2 Millionen WählerInnenstimmen steigern. 34,5% sind ein historisches Ergebnis für die rechtsradikale Partei, die noch nie in ihrer Geschichte von so vielen Menschen gewählt wurde.
Ein anderes historisches Ergebnis sind die NichtwählerInnen. Scheinbar waren mit 25,3% der Wahlberechtigten so viele Menschen nicht zur Wahl gegangen wie 1969 nicht mehr. Das ist errschreckend, zeugt aber auch davon, dass die Menschen glaubten keine wirkliche Wahl zu haben. Vor allem die WählerInnen von Jean-Luc Mélenchon haben sich nach aktuellen Umfragen ihrer Stimme enthalten („blanc“ gewählt) oder sind gar nicht erst zur Wahl gegangen. Insgesamt haben 8,8% einen weißen Wahlzettel in die Urne geworfen.
Schon vor den Wahlen war klar, dass das politische System Frankreichs vor dem Ende steh
t. Keine der etablierten Parteien hatte es in die Stichwahl geschafft. Vielmehr ist die französische Sozialdemokratie in der Bedeutungslosigkeit verschwunden. Das Zweiparteiensystem, welches Frankreich jahrzehntelang stabilisiert hatte, ist am Ende. Zwar werden es die Parlamentswahlen im Juni nochmal konkreter zeigen, doch es scheint zu befürchten, dass Emmanuel Macron nicht auf stabilen Mehrheiten seine Politik betten kann.
Und auch die Wahl von Emmanuel Macron kann nicht als Aufbruch interpretiert werden. Wie kein anderer Kandidat repräsentiert Emmanuel Macron, der ehemalige Wirtschaftsminister das französische System. Er wird die Politik von Francois Hollande weiterführen und in seiner neoliberalen Dimension radikalisieren. Er ist ein Kandidat des sozialdemokratischen dritten Weges und kann als Tony Blair a la francaise verstanden werden. In meinem Buch habe ich ihn damals als organischen Intellektuellen des transnationalen Kapitals genannt. Eine Analyse seines Wahlprogramms findet ihr hier (https://www.rosalux.de/publikation/id/14624/die-rueckkehr-der-modernisten/). Macron steht für eine Politik, die die französische Wirtschaft deindustralisiert und die Armut und Arbeitslosigkeit gefördert hat. Seine Köcher ist voller alter Rezepte aus der neoliberalen Schule von Anthony Giddens. Sein Wirtschaftsberater Jean Pisany-Ferry, der nun als Wirtschaftsminister gehandelt wird, hat in einem Interview einmal gesagt: „Macron sieht Wachstum als fundamentalen Bedingung für soziale Gerechtigkeit. Daher bekämpft er alles, was Wachstum blockiert“. Dazu zählt er übrigens auch die Macht der Gewerkschaften, die sich nun sehr warm anziehen können.
Der Artikel erschien am 04.05.2017 im Blog der Zeitschrift OXI. Wirtschaft für Gesellschaft.
Weder Emmanuel Macron noch Marine Le Pen werden die französische Wirtschaftskrise lösen. Aber die PräsidentschaftskandidatInnen setzen auf unterschiedliche Zielgruppen in der Wirtschaftspolitik.
Der französische Präsidentschaftswahlkampf war dieses Jahr unberechenbar wie selten. Es war ein Wahlkampf der Skandale, der Überraschungen und der politischen Polarisierung. In der zweiten Runde der Wahlen stehen sich am Sonntag nun der liberale Emmanuel Macron (En Marche!) und die rechtsextreme Marine Le Pen (Front National) gegenüber. Die KandidatInnen repräsentieren die Spaltung der französischen Gesellschaft in drei zentralen politischen Fragen: Migration, Europa und die wirtschaftliche Entwicklung Frankreichs. Zu diesen Themen bieten Macron und Le Pen geradezu konträre Lösungen an.
Während Marine Le Pen in ihrem Programm einen Austritt aus dem Euro und der EU verspricht und die Migration nach Frankreich massiv einschränken möchte, plant Emmanuel Macron, sich für eine Vertiefung des europäischen Einigungsprozesses einzusetzen und zugleich eine europäisch koordinierte und regulierte Einwanderungspolitik durchzusetzen.
Le Pen: Gegen Ausländer und Gewerkschaften
Auch wirtschaftspolitisch trennen Marine Le Pen und Emmanuel Macron Welten. So fordert die rechtsradikale Kandidatin unter dem Label »priorité nationale« eine protektionistische Wirtschaftspolitik, welche französische Firmen durch Subventionen und Zollschranken vor Konkurrenz aus dem Ausland schützen soll. Ausländischen Firmen soll es durch zusätzliche Steuern zudem erschwert werden, ihre Produkte in Frankreich anzubieten. Zugleich sollen französische ArbeitnehmerInnen bevorzugt eingestellt, nicht-französische ArbeitnehmerInnen durch hohe Steuern auf dem Arbeitsmarkt diskriminiert werden. Auch in der Sozialpolitik sollen Franzosen deutlichere Vorteile gegenüber nicht Franzosen genießen.
Anders als die Rhetorik von Marine Le Pen vermuten lässt, sind aber nicht die Unternehmen der größte Feind des Front National, sondern die Gewerkschaften. Diese will Le Pen finanziell austrocknen und strukturell entmachten. Dagegen sollen vor allem die kleinen und mittelständischen Unternehmen durch eine Senkung der Erbschaftssteuer, eine Abschaffung der Vermögenssteuer und eine geplante Steuerbefreiung von Überstunden finanziell entlastet werden.
Macron: Gegen Arbeitsrechte und Gewerkschaften
Emmanuel Macron dagegen plant, die französische Wirtschaft stärker auf Export zu polen. Eine große Arbeitsmarktreform soll schärfere Aktivierungs- und Sanktionsmechanismen in die Arbeitslosenversicherung verankern und die Gewerkschaften durch eine Umkehrung der Normrangfolge zugunsten von Unternehmensvereinbarungen de facto entmachten. Dadurch sollen die Lohnkosten mittelfristig gesenkt und die Wettbewerbsfähigkeit französischer Unternehmen erhöht werden. Mit geringeren Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträgen zu den Sozialversicherungen und einer Senkung der Unternehmenssteuer von 33 auf 25 Prozent will Macron die Lohnnebenkosten reduzieren.
Zugleich fordert Macron Investitionen von 50 Milliarden Euro in die »ökologische Modernisierung« Frankreichs. Von diesem Geld soll die »Industrie der Zukunft« ebenso gefördert werden wie der ökologische Umbau der öffentlichen Verwaltung, des Gesundheitswesens, der Landwirtschaft und des Verkehrswesens. Konkret geht es dabei um die Subventionierung von Elektoautos, Bioessen in Schulkantinen und die Förderung von Start-Ups. An das nötige Geld hofft Macron, durch den Verkauf staatlicher Unternehmensanteile und die »Entbürokratisierung« der öffentlichen Verwaltung zu kommen: Allein 60 Milliarden Euro an öffentlichen Ausgaben möchte Macron einsparen, was den Abbau tausender Stellen im öffentlichen Dienst bedeuten würde.
Macron und Le Pen haben in der Tat unterschiedliche Zielgruppen in der Wirtschaftspolitik vor Augen. Während Emmanuel Macron in erster Linie die Wettbewerbsfähigkeit der großen französischen Unternehmen fördern und durch Senkung der Lohnstückkosten den Export ankurbeln möchte, vertritt Marine Le Pen wirtschaftspolitisch vor allem die kleinen und mittelständischen Unternehmen, welche durch den gemeinsamen europäischen Binnenmarkt und der Freihandelspolitik unter Druck geraten sind. Daher verfolgt Marine Le Pen eine Abschottungspolitik, welche französische Unternehmen bevorzugt und in erster Linie auf die Stärkung des Binnenmarktes zielt.
Die Krise löst weder Macron noch Le Pen
Obwohl die wirtschaftspolitischen Programme der KandidatInnen sich stark unterscheiden, werden beide nicht zur Lösung der tiefen ökonomischen Krise in Frankreich beitragen. Eine rassistisch motivierte Abschottungspolitik hat in einer Welt globalisierter Produktionsketten keine Zukunft und würde nicht nur die französische Wirtschaft noch tiefer in die Krise führen. Marine Le Pen ist keine soziale Alternative, sondern will zurück in eine Zeit, in der die Gewerkschaften schwach waren und der französische Patron nach Belieben schalten und walten konnte.
Doch auch die wirtschaftspolitischen Pläne von Emmanuel Macron lassen keine Lösungsansätze für die ökonomische Krise in Frankreich erkennen. Die geplanten Reformen stehen vielmehr in Kontinuität zur französischen Wirtschaftspolitik der letzten dreißig Jahre, welche Frankreich deindustrialisierte, die Arbeitslosigkeit erhöhte und die Armut förderte. Eine Fortsetzung dieser Politik würde die sozialen Spaltungslinien in Frankreich vertiefen, die Marine Le Pen und den Front National erst stark gemacht haben.
Der Text erschien am 04.05.2017 im Neuen Deutschland auf Seite 4
Wird der nächste französische Präsident Emmanuel Macron heißen? Derzeit sieht vieles danach aus, auch wenn der liberale Kandidat derzeit nur wenig dafür tut, in der Stichwahl am 7. Mai die Nase vorn zu haben. Nach seinem Sieg in der erste Runde der französischen Präsidentschaftswahlen scheint er eher damit beschäftigt, seine zukünftige Amtszeit vorzubereiten, als sich aktiv um die WählerInnenstimmen der anderen KandidatInnen zu bemühen. Dabei werden gerade Stimmen des drittplatzierten Francois Fillon sowie des viertplatzierten Jean-Luc Mélenchon ausschlaggebend sein, ob der nächste Staatspräsident Frankreichs wirklich Macron heißen wird.
Nun könnte man davon ausgehen, dass Macron durch Zugeständnisse und Dialogangebote eben jene WählerInnen umstimmen und für sich gewinnen will. Doch das Gegenteil ist der Fall. Seit seinem Sieg in der Stichwahl hat der liberale Kandidat vielmehr alles dafür getan, die WählerInnen von Jean-Luc Mélenchon vor den Kopf zu stoßen.
Anders als Jacques Chirac im Jahr 2002 – als überraschend Jean-Marie Le Pen in die Stichwahl kam – geht Macron keinen Schritt auf die französische Linke zu. Ein Dialog bleibt ebenso aus wie ein symbolisches Entgegenkommen. Stattdessen werden seine Aktivitäten als Provokationen aufgefasst. Angefangen mit seiner Jubelfeier in einem Sternerestaurant nach seinem Einzug in die Stichwahl, bei der zahlreiche WirtschaftsvertreterInnen anwesend waren, bis hin zur nicht dementierten Spekulation, die ehemalige Vorsitzende des Arbeitgeberverbandes, Laurent Parisot, zur Premierministerin machen zu wollen.
Auch inhaltliche Zugeständnisse sind von Macron nicht zu erwarten. Mélenchon hatte Macron aufgefordert, im Fall seines Wahlsieges die Arbeitsrechtsreform des vergangenen Sommers rückgängig zu machen. Dies lehnte der liberale Kandidat jedoch vehement ab und kündigte vielmehr eine weiterreichende Reform des »Codes travail« an. Und auch symbolisch ist Macron nicht auf Dialog aus. Seine letzte große Wahlkampfveranstaltung in Paris hat er zeitgleich zur traditionellen 1.-Mai-Demonstration der linken Gewerkschaften abgehalten. Ein Dialog mit den WählerInnen von »France Insoumise« sieht anders aus.
Le Pen hat dagegen verstanden, dass sie um die WählerInnen von Mélenchon kämpfen muss. Seit ihrem Einzug in die Stichwahl hat Le Pen die soziale Frage in den Mittelpunkt ihrer Kampagne gerückt und die WählerInnen von »France Insoumise« persönlich angesprochen. Ein gutes Beispiel dafür war ihr Besuch in einer Fabrik des Wäschetrocknerherstellers Whirlpool Anfang letzter Woche. Dieser will sein Werk in Amiens schließen, weshalb es seit Wochen von den ArbeiterInnen bestreikt wird. Während Macron sich mit Konzernvertretern und Gewerkschaften in der Industrie- und Handelskammer traf, besuchte Le Pen zeitgleich die streikenden ArbeiterInnen und versprach den Streikenden, die Schließung des Werks nach ihrer Wahl zu verhindern. Macron hatte dem wenig entgegenzusetzen. Mit seinem Habitus, die Wahl bereits gewonnen zu haben, konnte er nur darauf hinweisen, dass er keine Versprechungen zur Zukunft der Fabrik machen kann.
Emmanuel Macron scheint auf das antifaschistische Gewissen der Linken und ihr republikanisches Verantwortungsgefühl zu vertrauen. Von ihm ist daher auch in den nächsten Tagen kein Entgegenkommen an die Linke zu erwarten. Diese Strategie birgt jedoch Gefahr, dass sich zu viele nicht überwinden können, dem neoliberalen Hardliner ihre Stimme zu geben, um eine Präsidentin Marine Le Pen zu verhindern. Sein Vorsprung in den Umfragen schmilzt bereits.
Puh, was für eine Debatte. Mehr als zwei Stunden intensiven Schlagabtausch zwischen Emmanuel Macron und Marine Le Pen liegen hinter uns. Es war eine Debatte voller Hass und Abneigung vor einander. Es war eine sehr persönlich geführte Debatte und eine Debatte, welche die Unterschiede zwischen den beiden KandidatInnen offenbarte. Der progressive Neoliberalismus in Person von Emmanuel Macron saß dem Musterbeispiel des autoritären Populismus in Person von Marine Le Pen gegenüber.
So richtig gewonnen hat keiner und dann doch wieder alle beide auf ihre eigene Art. Es ist daher schwierig zu sagen, wer „objektiv“ die Debatte für sich entscheiden konnte. Wenn man aus einer bürgerlichen Perspektive die Debatte gesehen hat, dann ist ganz klar Macron der Gewinner. Er hat inhaltlich die Debatte dominiert, sehr faktenreich sein
Programm erklärt und vor allem in den Bereichen Europa und Wirtschaft mit seinem Faktenwissen brilliert. Man nahm ihm ab, dass er eine Experte auf diesen Gebieten ist und weiß wovon er redet. Hier und da landete er Treffer bei Le Pen und konnte sie mehrfach der „Lüge“ überführen, ihre inhaltlichen Angriffe abwehren und sie sogar beim Thema Euroaustritt stark in die Defensive drängen. Er hat artig sein wichtigsten Punkte runtergerattert und sich bis auf einige Ausnahmen als sehr präsidial dargestellt.
Verändert man jedoch den Blickwinkel, dann erkennt man, dass auch Marine Le Pen genau das erreicht hat, was sie erreichen wollte. Sie wusste, dass sie diese Debatte nutzen muss, um noch eine Chance bei den Wahlen zu haben. Die gab wirklich alles und griff Macron in einer Tour an. Er sei der „Kandidat der Eliten“, während sie das französische Volk verteidige. Er sei „fremdgesteuert“, während sie unabhängig im Namen Frankreich für Arbeitsplätze und Wohlstand kämpft. Er sei der Kandidat des Systems, der Banken und großen Konzerne, während sie für die ArbeiterInnen und Unsichtbaren ihre Stimme erhebt und Politik mache. Darüberhinaus machte sie ihn verantwortlich für die Bilanz von Francois Hollande, nannte ihn „Emmanuel Hollande“ oder „Hollande Junior“.
Zugleich setzte sie alles auf die Karte der sozialen Frage und man meinte sich manchmal verhört zu haben. Viele Sätze und Forderungen Le Pens hätte ich unterschreiben können, wenn ich ihr Programm nicht kennen würden. So sprach sie davon, dass sie die Branchentarifverträge verteidigen wolle, während Macron mit dem Loi El Khomri diese faktisch abgeschafft habe und nun die vollständige Zerstörung plane. Wenn man nicht wüsste, dass Le Pen die Gewerkschaften verbieten bzw. finanziell austrocknen will, man hätte sie für eine engagierte Gewerkschafterin gehalten. Das Gleiche hörte man beim Renteneintrittsalter, bei der Reform der Sozial- und Arbeitslosenversicherung oder gar im Bereich der Europäischen Union. Le Pen wusste, dass sie die sozialen Themen besetzen muss, um die Mélenchon-WählerInnen für sich zu gewinnen. Das tat sie und das sogar relativ überzeugend.
Doch manchmal kam sie dadurch auch ins Schleudern. Die größte Schwäche zeigte sie im Bereich des Euros, wo Macron brillierte. Scheinbar hat Marine Le Pen das Exit-Konzept von Mélenchon abgeschrieben aber dabei nicht richtig aufgepasst. In der Debatte sagte Le Pen, sie wolle zurück zum EWS, wo es den Euro als Buchgeld gab, die Alltagswährung aber der Franc war. Sie verwechselte den ECU mit dem Euro und offenbarte, dass sie eigentlich gar keine Ahnung von der Thematik hat. Mehr als fünf Minuten musste sie sich von Macron ihr eigenes Konzept erklären lassen, um sich dann von ihm belehren zu lassen, wie die europäische Wirtschaft eigentlich funktioniert. Sie rettete sich damit, dass sie Macron seine Bankervergangenheit vorwarf: „Der Euro ist nicht die Währung des französischen Volkes, sondern der Banken. Darum verteidigen Sie den Euro, weil Sie und ihre Freunde auch Banker sind Herr Macron“.
Neben ihrer sozialen Frage hat Le Pen aber auch offenbart, dass sie für Linke in keiner Weise wählbar ist. Sie warf Macron vor, dass er die Kolonialzeit in Algerien ein Menschheitsverbrechen genannt und damit Frankreich beleidigt hat. Sie leugnete erneut jegliche Verantwortung französischer Bürger an der Judenverfolgung während des Vichy-Regimes und sie machte deutlich, dass ihr gesamtes politisches Konzept auf dem rassistischen und menschenverachtenden Imperativ der „priorité national“ (das französische Pendant zu America First) beruht.
Letztendlich konnte Marine Le Pen aber einen zentralen Punkt machen, der für ihre Kampagne, noch über die Präsidentschaftswahlen hinaus wichtig sein wird. Sie hat sich selbst als jene Kraft dargestellt, die das herrschende System abschaffen will. Mit Stuart Hall gesprochen, hat sie klar gemacht, dass der Status Quo revolutioniert werden muss, um das Alte, das „Französische“ bewahren zu können. Darauf hat sie immer wieder hingewiesen. Dass sie bereit ist die französische Gesellschaft von Grund auf zu zerstören, um ihr politisches Projekt aufzubauen. Der Hass und die Abscheu vor Macron und seinen Freunden war sehr authentisch. Es war ein Hass gegen ein System, dass viele Franzosen heute so teilen.
Die französische Linke wird es also am kommenden Sonntag schwer haben. Die heutige Debatte hat gezeigt, dass Le Pen eine riesen Katastrophe für die französische Linke, für Frankreich und Europa wäre. Die Debatte hat aber auch gezeigt, dass Macron nicht bereit ist, auch nur einen Schritt auf die WählerInnen von France Insoumise zuzugehen. Macron – das wurde deutlich – ist gefährlich für den Sozialstaat, für die Gewerkschaften und für die Demokratie. Seine Politik wird zu großen Teilen auf Verordnungen beruhen, damit er einer Auseinandersetzung im Parlament aus dem Weg geht. Zugleich wird seine Agenda den französischen Sozialstaat erschüttern und Armut und Prekarität verstärken. Auch er ist für die französische Linke eigentlich unwählbar.
Seine arrogante Haltung und Siegerposen, seine abfällige Bemerkung gegenüber der Front National-WählerInnen sowie sein Unwille, auf die MélenchonwählerInnen zuzugehen, haben Macron heute nicht unbedingt sympathisch wirken lassen. Das ist gefährlich. Ich habe immer mehr das Gefühl, dass es am Sonntag enger werden könnte, als viele glauben. Derzeit steht es 41% zu 59% für Macron. Das ist kein deutlicher Vorsprung, zumal er in den letzten Tagen geschrumpft ist.
Das Eis scheint gebrochen zu sein zwischen der gaulistischen Rechten und dem Front National. Das was gestern noch aufgeregt bei Twitter spekuliert wurde, ist Wahrheit geworden. Der unabhängige Kandidat der Bewegung „Debout la France, Nicolas Dupont-Aignan, wurde eben offiziell von Marine Le Pen als Schattenpremierminister vorgestellt und ein gemeinsamer „Koalitionsvertrag“ unterschrieben. Dupont-Aignan hatte in der ersten Runde mit 4,7% der Stimmen ein beachtliches Ergebnis erzielt und landete auf dem 6. Platz hinter Benoît Hamon von der PS.
Dupont-Aignan gehörte früher zum sozialkonservativen Flügel der UMP und nahm dort oft eine Randposition ein. Im Wahlkampf 2012 und auch 2017 ist er als Monsieur Frexit bekannt geworden. Dupont-Aignan setzt sich für einen schnellen Austritt aus der EU und dem Euro ein sowie für eine stärkere Nutzung von Volksbefragungen. Als Gaulist ist er tief mit den Institutionen der 5.Republik verbunden. Von seinen Weltbild wie auch aufgrund seiner spezifischen Form des Euroskepsizismus hat Dupont-Aignan viele Überschneidungen mit dem Front National. Dennoch war eine Allianz zwischen beiden vor wenigen Tagen noch undenkbar, galt Dupont-Aignan doch als stärker in den konservativen Block integriert. Immer wieder hatte er Allianzen mit dem Front National abgelehnt und Vorwürfe in diese Richtung zurückgewiesen. Die Wahlergebnisse von Marine Le Pen scheinen dieses Bild jedoch geändert zu haben.
Mit Dupont-Aignan hat sich erstmals ein prominenter Konservativer offen zum Front National bekannt und seine Unterstützung für Marine Le Pen erklärt. Mag für viele dieser Schritt nicht überraschend sein, so stellt er doch ein Novum dar, dass ein berühmter Konservativer zum Front National „übertritt“. Auch in der eigenen Partei hat diese Entscheidung für Unruhe gesorgt. Viele hohe Funktionäre haben noch in der Nacht ihren Rücktritt verkündet und Dupont-Aignan als Verräter des Erbes Charles de Gaulles beschimpft.
Das Bündnis mit Dupont-Aignan wird in erster Linie Marine Le Pen nützen. Sie zeigt damit, dass sie offen für die rechten Konservativen ist, welche große Schwierigkeiten mit Emmanuel Macron haben. Für sie mag es jetzt ein Grund mehr sein, Le Pen zu wählen und gleichzeitig kein schlechtes Gewissen zu haben. Zugleich mag es so manchen rechten Konservativen dazu zu bewegen ins Lager der Front National überzuwechseln und auch in der größeren konservativen Partei „Les Républicains“ für Unruhe sorgen. Immerhin hatten im Vorfeld der Wahlen sich dort mehrere Stimmen für ein (lokales) Bündnis mit der Front National ausgesprochen gehabt. Es ist wahrscheinlich noch zu früh, genau zu sagen, wie sich diese Entscheidung Dupont-Aignan langfristig auswirken wird. Es zeigt aber, dass der Front National immer attraktiver für die konservative Rechte geworden ist.