Kategorien
Audio Gallery Meinung

Europa hat gewählt

Die Europawahlen sind vorbei. Europa hat gewählt. Man kann folgende vier Trends zusammenfassen:

1.) der befürchtete rechte Durchmarsch ist ausgeblieben, auch wenn die patriotische Allianz groß wird. Vor allem in Nordeuropa bleiben die Rechtspopulisten hinter den Erwartungen zurück. Dennoch sind die Rechten stärker geworden und insbesondere in den großen südeuropäischen Ländern Frankreich und Italien haben sie die Wahl gewonnen. Es wird sich zeigen, wie die PiS aus Polen und die Fidez aus Ungarn sich entscheiden werden. PiS wird der Fraktion „Patriotische Allianz“ sehr wahrscheinlich beitreten, bei Fidez liegt es wohl daran, ob sie die EPP-Fraktion verlassen müssen. Insgesamt bleibt die Mehrheit der Pro-EU-Parteien aber stabil. Viel gefährlicher für das EU-Projekt werden die Verhandlungen um die Kommissionsplätze werden. Hier besteht die Möglichkeit, dass es einen rechtsradikalen Kommissar geben kann, wenn die rechtsradikalen Parteien in Regierungsverantwortung sich abstimmen.

2.) Die Volksparteien sind überall auf dem Rückzug (mit einigen Ausnahmen). Es gibt erstmals keine Mehrheit aus Sozialdemokratie und Konservativen im Europaparlament. Das deutet auf einen Kollaps des europäischen Parteiensystems in ganz Europa hin. Eine Folge der Eurokrise, welche sich in eine tiefe politische Krise transformiert hat.

3.) die Grünen und die Liberalen sind die Gewinner der Europawahl2019. Vor allem in den großen Ländern (Deutschland und Frankreich) haben die Grünen wider erwartet starke Ergebnisse eingefahren. Knapp 70 Mandate ist eine Ansage und m.E. auch die Folge der europaweiten Klimaproteste der letzten Monate. Bei den Liberalen wird sich zeigen, ob Macron was Eigenes macht oder zu ALDE geht und eine gemeinsame Fraktion bildet. Vor allem in Osteuropa sind die Liberalen außergewöhnlich stark etwa in Rumänien.

4.) Die Linke ist neben der Sozialdemokratie DER Verlierer der Wahl. Die Financial Times rechnet mit nur 42 Mandaten und damit knapp 10 Mandate weniger. Die deutsche Linke und die französische. FI haben desaströse Verluste hinnehmen müssen. Auch SYRIZA hat herbe Verluste hinnehmen müssen. Die GUE/NGL wird wahrscheinlich die kleinste Fraktion im EP, wenn EFDD sich auflösen sollte. Alternative linke Europaparteiprojekte wie Diem25 sind krachend gescheitert.

Gestern Abend habe ich um 21:30 Uhr für den @halbzehn-Podcast die Ergebnisse analysiert und eine erste Einschätzung dazu abgegeben. Ich war sehr aufgeregt, weshalb mir natürlich erst danach dann eingefallen ist, was ich alles vergessen habe zu sagen. Aber in 20 Minuten ist das auch wirklich eine Herausforderung. Hört gerne rein und zwar hier: oder auf Spotify etc.:

Kategorien
Blog

Europäische Schicksalswahl?

Die etablierten Parteien haben die aktuellen Wahlen zum Europäischen Parlament zur „Schicksalswahl“[1] (Manfred Weber) erklärt, an der sich die Zukunft Europas entscheiden wird. Der Aufstieg des Populismus in vielen Mitgliedsstaaten der EU lässt das europäische Projekt erzittern und bedroht – so das Bild der etablierten Akteure – die liberalen europäischen Werte. Dementsprechend stellen die Europawahlen im Mai 2019 so etwas wie die letzte Schlacht um Freiheit und Gleichberechtigung dar. So erklärt etwa der Vorsitzende der europäischen Sozialdemokratie Sergei Stanishev:

“In such turbulent times, when nationalists and the far right in many European countries are considered as potential partners by the conservatives, when the traditional right is close to using the far right rhetoric to stay in power, we – the social democrats – are the only alternative, we will protect the European values of equality, human right and solidarity”[2]

Letztendlich muss dieses Bild vom europäischen Endkampf zwischen Liberalismus und Autoritarismus als Mobilisierungsversuch der etablierten europäischen Parteien verstanden werden. Denn das Bild ist aus zwei Perspektiven schief:

  • Zum einen, weil mit einer Mehrheit des rechtspopulistischen und rechtsradikalen Lagers im Europaparlament bei allem Pessimismus nicht zu rechnen ist. Aktuelle Umfragen sagen weiterhin eine stabile Mehrheit für die etablierten Parteien der Mitte voraus. Nimmt man die vorausgesagten Ergebnisse für die Fraktionen der Konservativen (EPP), der Sozialdemokraten (S&D), der Liberalen (ALDE inkl. La Republique En Marche[3]) als auch der Grünen (EG) in aktuellen Umfragen des Magazins POLITICO[4] auf eine stabile Mehrheit von 448 von 750 Sitzen (Umfrage vom 03.04.2019). Und selbst ohne die Grünen, welche insgesamt schwächer werden als bei der Wahl 2014, kann eine Mehrheit von 375 Sitzen (derzeit 402 Sitze) ohne größere Probleme organisiert werden.
  • Zum anderen erscheint das Bild der europäischen Schicksalswahl schief, da es die Rolle des Europäischen Parlaments (EP) im europäischen Gesetzgebungsverfahren überhöht. Wenn man seine Position im europäischen Gesetzgebungsprozess betrachtet, dann werden sehr schnell die Grenzen des Parlaments offensichtlich. So ist das EP im Gesetzgebungsverfahren eingezwängt zwischen den Organen des Rats und der Kommission. Anders als die Kommission verfügt das EP über kein Gesetzesinitiativrecht und muss sich immer mit dem Rat im Gesetzgebungsverfahren abstimmen, wobei die Staats- und Regierungschefs immer das letzte Wort behalten. Zudem hat das EP in einigen Bereichen wie der Außen- und Sicherheitspolitik oder der Wettbewerbspolitik nicht einmal ein Mitspracherecht und muss ausschließlich konsultiert werden. So war es nicht überraschend, als im Jahr 2014 das deutsche Bundesverfassungsgericht zur Einschätzung kam, dass das Europäische Parlament kein vollwertiges Parlament darstellt und daher die 3-Prozent-Wahlhürde für verfassungswidrig erklärte[5].

Rechtsruck in den Nationalstaaten

Nichtsdestotrotz ist die Prognose richtig, dass bei den Wahlen im Mai ein starker Stimmengewinn für die radikale Rechten zu erwarten ist. Zählt man die möglichen Sitze der verschiedenen rechtsradikalen Fraktionen im EP zusammen, so könnten sie auf knapp 160 Abgeordnete anwachsen. Zugleich gibt es aktuell Bestrebungen, die zersplitterte Rechte im EP zu vereinen[6]. So betonte zuletzt die Spitzenkandidaten der österreichischen FPÖ als auch der deutschen AfD zu den Europawahlen, Harald Vilimsky und Jörg Meuten, das Ziel eine gemeinsame Fraktion der „Euroskeptiker“ zu formen. Die neu geschaffene „patriotic alliance“ soll die rechtspopulistischen und rechtsradikalen Parteien aus den Fraktionen Europe of Nations and Freedom Group (VF, FPÖ, Lega, Rassemble National), Europe of Freedom and Direct Democracy (AfD, UKIP, 5Star) und European Conservatives and Reformists zusammenzuführen. Zwar gab es die Bestrebungen auch schon vor der letzten Europawahl, diesmal scheint jedoch ein Zusammengehen von ENF und EFDD nicht unwahrscheinlich, da die europäische Rechte in den letzten Jahren enger zusammengerückt und sowohl die AfD als auch die 5 Sternebewegung ihre Berührungsängste zu offen rechtsradikalen Zusammenschlüssen wie der Rassemble National von Marine Le Pen verloren haben. Vor allem der italienische Innenminister Chef der rechtsradikalen Lega Mattheo Salvini treibt ein Zusammengehen der größeren Parteien voran und hofft zugleich die ungarische Fidez als auch die polnische PiS in der „patriotic alliance“ zu holen. Während die PiS Teil der ECR ist, ist Fidez noch Mitglied in der konservativen EPP-Fraktion, wo sie jedoch kurz vor dem Ausschluss steht. Ein Wechsel beider Parteien zu einer neu geschaffenen rechtspopulistischen Fraktion wäre für Salvini ein großer Coup, da er dann auch zugleich auf eine engere Zusammenarbeit mit den beiden Regierungsparteien im Rat rechnen kann[7].

Und hier wird die wirkliche Gefahr für das europäische Projekt offensichtlich. So muss das zu erwartende Ergebnis bei den Europawahlen im Mai in erster Linie als ein Ausdruck der politischen Stimmung in den Mitgliedsstaaten verstanden werden. Und dort finden sich zunehmend rechtsradikale Parteien in den Regierungen. Dort können sie die europäische Politik sowohl über den Rat als auch über die Besetzung der Europäischen Kommission erheblich mehr beeinflussen als im Parlament. Ein Beispiel: Die Kommissionsmitglieder werden von den nationalen Regierungen vorgeschlagen, weshalb davon auszugehen ist, dass sich die polnische PiS-Regierung, die österreichische ÖVP-FPÖ-Koalition, die italienische Regierung aus Lega und 5-Sterne sowie die ungarische Regierung von Victor Orban absprechen, koordinieren und ihre Vorschläge durchzusetzen versuchen werden. Unterstützung könnten sie von einer rechtsgerichteten spanischen Regierung aus konservativer PP, neoliberaler Ciudadanos und rechtsradikalen Vox bekommen, welche bei den vorgezogenen Neuwahlen Ende April 2019 in Umfragen eine stabile Mehrheit aufweisen[8]. Es muss daher davon ausgegangen werden, dass der neuen Europäischen Kommission mindestens zwei Kommissare aus dem radikal rechten Lager angehören werden.

Neue Kommission unter deutscher Führung

Wie genau die neue Kommission besetzt sein wird, ist aufgrund der intransparenten Verhandlungen im Rat wenig voraussagbar. Sehr wahrscheinlich ist jedoch, dass der neue Kommissionspräsident Manfred Weber (CSU) heißen wird. Die deutsche Bundekanzlerin Angela Merkel hat ihre Unterstützung für Manfred Weber bereits bekräftig[9]. Neben dem Chef des ESM, Klaus Regling und dem Generalsekretär der Kommission, Martin Selmayr wird dadurch eine weitere europäische Schlüsselposition besetzt. Die deutsche Dominanz in der EU bildet sich somit auch personell in den europäischen Institutionen ab. Die Kommission ist in der Krise zu einem der mächtigsten europäischen Organe herangewachsen, dass nicht mehr nur Hüter der Verträge ist und ein Initiativrecht besitzt. Vielmehr ist die Kommission heute das zentrale Steuerungszentrum, mit der die Politiken der europäischen Mitgliedsstaaten koordiniert und zum Teil auch inhaltlich bestimmt werden. Keine Regierung kann heute gegen den Willen der Kommission eine eigenständige Wirtschafts- oder Arbeitsmarktpolitik verfolgen, ohne europäischen Druck und finanzielle Sanktionen fürchten zu müssen[10]. Zwar ist der Rat weiterhin das europäische Machtzentrum, jedoch wurden in der Krise zahlreiche Governancemechanismen wie bspw. das Europäische Semester etabliert, mit der die Kommission Einfluss auf die nationale Politikformulierung nehmen kann[11].

Nach der Krise ist vor der Krise.

Die inhaltliche und strategische Ausrichtung der neuen Kommission wird sehr wahrscheinlich deutlich andere Akzente setzen als die aktuelle Kommission unter Jean-Claude Juncker. Dies liegt zum einen an der marktliberaleren Ausrichtung des konservativen Manfred Webers als auch an der heraufziehenden globalen Konjunkturabschwächung. Zwar ist auch die Kommission Juncker hinter ihrem Anspruch zurückgeblieben, die soziale Dimension der EU zu stärken (Social Triple A[12]), jedoch hatte sie die sozialen Folgen der Krise stärker thematisiert und mit der Europäischen Säule sozialer Rechte zumindest einen symbolisch wichtigen Schritt in die Richtung einer Sozialunion gemacht[13]. Ein solcher Kurs ist von der zukünftigen Weber-Kommission nicht zu erwarten, wie aktuelle Interviews andeuten[14]. So steht er den Reformvorschlägen zu einer Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion kritisch gegenüber und pocht auf die Einhaltung der Verschuldungsregeln von Maastricht.

Diese Haltung könnte jedoch zu großen Problemen führen: Zwar hat die EU die Krise überstanden, ihre teils autoritäre Bearbeitung hat jedoch in fast allen Mitgliedsstaaten zu großen sozialen Verwerfungen und einem massiven Vertrauensverlust in die Demokratie und die politischen Funktionsträger geführt. Insbesondere in Ost- und Südeuropa ist das Ansehen der EU weiterhin sehr niedrig, während die radikale Rechte in den letzten Jahren stark an Zuspruch gewonnen hat. Eine neue Krise würde die EU daher allein aus politischen Gesichtspunkten kaum überstehen können.

Daneben lässt sich auch aus einer ökonomischen Perspektive an der Krisenfestigkeit der EU und insbesondere der Währungsunion zweifeln. Zum einen, weil die EZB als Lender of last ressorts ihr geldpolitisches Pulver in der letzten Krise bereits weitestgehend verschossen hat. So liegt der europäische Leitzins – anders als in den USA – auch 2019 noch weiterhin bei 0,00 %. Im Fall einer erneuten Krise wäre der geldpolitische Handlungsrahmen der EZB damit massiv eingeschränkt. Wirtschaftliche Erleichterungen durch die Senkung des Leitzinsens sind nicht möglich. Zugleich wurden notwendige Reformen der Wirtschafts- und Währungsunion verwässert, nicht umgesetzt oder scheiterten am Veto der nordeuropäischen Geberländer wie Deutschland oder der hanseatischen Liga. Weitreichende Reformpläne, wie jene für eine Fiskal- und Transferunion vonseiten des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron, verliefen sich im Nichts der europäischen Bürokratie. Eine europäische Wirtschaftsregierung mit weitreichenden Kompetenzen und einem ausreichenden Budget ist heute genauso weit entfernt wie vor der Krise. Die Bankenunion gilt seit 2010 als aussichtsreichstes Projekt, bleibt aber bis heute – aufgrund vielfältiger Widerstände – unvollendet. Einzig der Stabilitäts- und Wachstumspakt wurde ausgebaut und in seiner Verbindlichkeit gestärkt. Die Stabilitätssicherung der gemeinsamen Währung war das zentrale Motiv der europäischen Krisenbearbeitung zwischen 2009 und 2015. Alle anderen wirtschaftspolitischen Bereiche wurden weitestgehend vernachlässigt. Dementsprechend ist die EU auf einen erneuten wirtschaftlichen Einbruch schlecht vorbereitet.


[1] Manfred Weber im Interview mit DER SPIEGEL Nr.10/2019. S.30

[2] https://www.pes.eu/en/news-events/news/detail/Frans-Timmermans-ItsTime-for-A-New-Social-Contract-for-Europe/

[3] Die Partei des französischen Präsidenten Macron hat es bisher offengelassen, ob sie sich der liberalen ALDE-Fraktion anschließen wird oder versuchen wird eine eigene Fraktion zu schmieden.

[4] https://www.politico.eu/2019-european-elections/

[5] https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2014/bvg14-014.html

[6] https://www.euractiv.com/section/eu-elections-2019/news/afd-chief-doubts-patriotic-alliance-could-be-formed-in-next-european-parliament/

[7] https://www.theguardian.com/world/2019/apr/04/salvini-aims-to-forge-far-right-alliance-ahead-of-european-elections

[8] https://pollofpolls.eu/ES

[9] http://www.spiegel.de/politik/ausland/manfred-weber-evp-spitzenkandidat-von-angela-merkels-gnaden-a-1237389.html

[10] https://awblog.at/frankreich-neue-europaeische-arbeitsmarktpolitik/

[11] https://www.rosalux.de/en/publication/id/39804/ten-years-of-crisis/

[12] https://www.politico.eu/article/jean-claude-junckers-social-agenda-europe-commission-president/

[13] https://www.boeckler.de/pdf/p_wsi_pb_17e_2017.pdf

[14] https://www.handelsblatt.com/politik/international/interview-manfred-weber-kritisiert-das-erscheinungsbild-der-bundesregierung-in-europa/23637748.html?ticket=ST-503888-GYgMP6rtrYaxjqMF907p-ap1

Kategorien
Allgemein Artikel

Für eine Neugründung Europas

Wo ist das Kräfteverhältnis? Eine Antwort auf Thomas Händel und Frank Puskarev

Thomas Händel und Frank Puskarev schreiben in ihrem Artikel »Ein sozialistisches Europa?« einen kurzen Abriss über die »Europa-Debatte« in der europäischen Linken. Dabei handeln sie historisch nacheinander verschiedene AkteurInnen dieser Debatte, von Kautsky bis Spirelli, von Habermas bis Huffschmidt ab. Im letzten Abschnitt schlagen die beiden Autoren vor, sich von einer reinen reaktiven Kritik am Krisenmanagement der Europäischen Union zu verabschieden und stattdessen ein »gemeinsames europäisches Alternativprojekt zu formulieren«.

Wie dieses scheinbar »alternative« Projekt aussehen soll, schieben die beiden Autoren sogleich auch hinterher und skizzieren kurz eine »Konzeption für ein kooperatives, solidarisches Europa«, welche stark an sozialdemokratischen Vorstellungen erinnert. Weder wird die Eigentumsfrage gestellt, noch ist von einer Neugründung Europas die Rede. Vielmehr entpuppt sich dieses, von Händel und Puskarev vorgeschlagenes, »Alternativprojekt«, als ein Reformvorschlag für die real existierende Europäische Union, welcher offenbar zur Umsetzung – so scheint es – nur noch formuliert werden muss. Dabei übersehen die beiden Autoren nicht nur die jüngsten Diskussionen um ein »Europa von unten«, wie sie derzeit in der europäischen Bewegung gegen die Krisenpolitik der EU geführt werden, sondern auch das reale Kräfteverhältnis in der Europäischen Union. Es reicht daher für die Formulierung eines Alternativprojektes nicht aus, sich ausschließlich auf die Klassiker sozialistischer und sozialdemokratischer Europadiskussion zu beziehen, sondern es benötigt vielmehr eine Analyse der Kräfteverhältnisse auf der europäischen Ebenen und einen Blick auf die Geschichte der Europäischen Union.

Die EU als Elitenprojekt verstehen

Anders als die beiden Autoren es formulieren, war der europäische Integrationsprozess von Anfang ein Elitenprojekt. Nach dem zweiten Weltkrieg waren es europäische und US-amerikanische Eliten aus dem ökonomischen und politischen Bereich, wie etwa der Politiker Jean Monnent oder das Netzwerk »American Europeanists«, welche den Integrationsprozess fokussierten und vorantrieben. Mit dem Ende der »Eurosklerose« (Deppe 1993) und dem Scheitern der keynesianisch-korporatistischen Integrationsweise, Mitte der 1980er Jahre, entwickelte sich die Europäische Gemeinschaft (EG) zu einem wichtigen Stützpunkt europäisierter und transnationalisierter Kapitalfraktionen, was sich in der »wettbewerbsstaatlichen Integrationsweise« (Ziltener 1999) und der Durchsetzung eines europäischen neoliberalen hegemonialen Projekts äußerte. Netzwerke wie der European Roundtable of Industrialists, der sich aus Repräsentanten der 50 führenden europäischen Industriekonzernen zusammensetzt, waren federführend an den wichtigsten europäischen Projekten, wie etwa dem Binnenmarktprojekt, beteiligt. Dies führte, vor dem Hintergrund des Aufstiegs des Neoliberalismus und den damit einhergehenden strategischen Neuorientierung des Kapitals, dazu, dass europäische und transnationale Institutionen und Organisationen, wie der EuGH, die Europäische Kommission oder europäische Agenturen wie FRONTEX etc. deutlich an Bedeutung gewonnen haben, während gleichzeitig Institutionen wie das Europäische Parlament im Institutionenensemble der EU eine nachgeordnete, marginale Rolle spielen und sich eine wirkliche europäische Zivilgesellschaft im Sinne Gramscis nicht herausbilden konnte. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass die europäische Ebene aufgrund ihrer Konstruktion eine starke strukturelle Selektivität (Poulantzas 2002) für europäisierte und transnationale Kapitalfraktionen aufweist, d.h. das Vorschläge dieser Kapitalfraktionen mehr Gehör finden und sich ihrer Forderungen stärker angenommen wird als anderer. Gewerkschaften und NGOs können oftmals ihre Interessen nur vermittelt über die nationalen Regierungen in der EU äußern, womit ihnen auf der europäischen Ebene ein wichtiges Kampffeld fehlt.

Kräfteverhältnisse analysieren

Der Vorschlag eines »Alternativprojektes« von Händel und Puskarev übersieht zudem die Ergebnisse der jüngeren kritischen Europaforschung, wie sie etwa in der Forschungsgruppe Europäische Union in Marburg oder die Forschungsgruppe »Staatsprojekt Europa« in Frankfurt zu Tage gefördert wurden. Diese lassen erkennen, dass sich die neoliberale Integrationsweise in der Krise vielmehr verschärft und autoritär zugespitzt hat. Wichtige wirtschaftliche und politische Kompetenzen, welche auf der nationalen Ebene durch demokratisch gewählte Parlamente ausgeübt wurden, sind im Zuge der Krisenpolitik an die europäische Ebene abgegeben worden und werden nun in demokratisch nicht legitimierten Institutionen, wie etwa der Europäischen Kommission verhandelt. Gleichzeitig werden durch die Austeritätspolitik der EU die Gewerkschaften in den Mitgliedsländern geschwächt, die Mindestlöhne gesenkt und die Tarifautonomie geschleift. Der Gewerkschaftsforscher Thorsten Schulten spricht gar von einem »neuen europäischen Interventionismus« der EU in die nationale Tarifpolitik zur Ungunsten der Lohnabhängigen. Auch Lukas Oberndorfer von der Arbeiterkammer in Wien sieht in der aktuellen Krisenpolitik der EU eine »Radikalisierung des neoliberalen Projekts« in der die Wettbewerbspolitik autoritär durchgesetzt und institutionell verankert wird.

Interessant ist dabei, dass von der europäischen Austeritätspolitik vor allem jene Volkswirtschaften betroffen sind, in denen das nationale Kräfteverhältnis eine neoliberale Umstrukturierung in dieser Form in Vorkrisenzeiten verhindert hätte. Durch die Strukturprogramme werden die Handlungsmöglichkeiten für die Subalternen, ihre Interesse auf der europäischen Ebene zu artikulieren noch weiter eingeschränkt, da die Krisenpolitik der EU auch in die Kräfteverhältnisse in den Mitgliedsstaaten eingreift. Die Krisenbearbeitung durch die europäischen Eliten ist dabei allein auf die Wettbewerbsfähigkeit des europäisierten und transnational orientierten Kapitals ausgerichtet und schreibt die politisch-ökonomische Ausrichtung der EU fest.

Ein »Alternativprojekt«, welches eine Reform der Europäischen Union im sozialdemokratischen Sinne vorschlägt, übersieht genau dieses verfestigte und institutionell auf europäischer Ebene abgesicherte Kräfteverhältnis. Die Institutionen der EU sind zu stark vermachtet und die neoliberale Ausrichtung in den europäischen Verträgen (bspw. Lissabon-Vertrag) festgeschrieben, als das eine sozialdemokratische Reform der EU, ohne eine Infragestellung der realexistierenden EU möglich wäre. Ein »Alternativprojekt«, welches das Kräfteverhältnis übersieht schwebt im luftleeren Raum. Ein gegen-hegemoniales Projekt müsste vielmehr aus der fragmentierten europäischen Zivilgesellschaft, d.h. aus den verschiedenen Bewegungen und Kämpfen heraus entwickelt werden, welche die beiden Autoren ebenso übersehen.

»Europa von unten«

Es ist Händel und Puskarev zuzustimmen, wenn sie schreiben, dass die europäische Linke nicht in einer reaktiven Kritik der europäischen Austeritätspolitik verharren darf. Der passive Konsens in der europäischen Bevölkerung zum europäischen Projekt ist aufgezehrt. Das »Staatsprojekt Europa« (Kannankulam/Georgi 2012) steht zur Disposition und somit ist der Diskurs um die Zukunft Europas in der Zivilgesellschaft dominanter und für die Artikulation von Hegemonieprojekten offener den jemals zuvor. Dieses »gegen-hegemoniale Projekt« (Gramsci 2012) darf dabei nicht auf eine Reformierbarkeit der real existierenden Europäischen Union hoffen, sondern sollte klar eine Neugründung Europas von unten forcieren und eine andere europäische Politik der Menschen in den Vordergrund stellen. Hierbei ist eine Zusammenarbeit der emanzipatorischen Kräfte in den Parlamenten und in den Bewegungen gefordert. So scheint mir die Forderung nach einer Versammlung zur Neugründung Europas, nach 30 Jahren Integrationsprozess, als eine Möglichkeit, eine Europa von unten zu konstituieren. (Oberndorfer 2012) Damit könnte ein Forum geschaffen werden, das zum einen ein Ressonanzraum für die verschiedenen europäischen Bewegungen und Kämpfe darstellen könnte und zu anderen das das Vetorecht der Staats- und Regierungschefs im derzeitigen europäischen Entscheidungsverfahren aushebelt. Dies würde bedeuten, dass eine linke Gegenstrategie für ein Europa von Unten jede weitere Vertiefung der europäischen Integration mit der Forderung nach der Schaffung eines neuen Forums für Entscheidungen entgegnet, welches sich durch freie und geheime Wahlen zusammensetzt.

Ein gesamteuropäischer Diskurs für ein Europa von unten benötigt jedoch eine gemeinsame Begegnung und eine stärkere Vernetzung von Bewegung, Parteien und Gewerkschaften auf europäischer Ebene. Dabei können die Vernetzungen im Zuge des Blockupy-Protestes, sowie die gemeinsamen europäischen Aktionstage, am 01.06.2013 oder auch der gemeinsame (süd-)europäische Generalstreik im November 2012, als erste Erfolge gewertet werden. Dabei müssen die verschiedenen Bewegungen und Forderungen in Europa gebündelt und europäisch »gewendet« werden. (Oberndorfer 2012).

Dafür scheint sich das Aktionsfeld »Wohnraum« anzubieten (Jensen/Syrovatka 2013). Seit Beginn der europäischen Krise sind die Protestbewegungen für bezahlbaren Wohnraum und gegen Zwangsräumungen in ganz Europa stark gewachsen. Gerade in Spanien stellt die Plattform der Hypothekenbetroffenen, einen der Hauptakteure im Kampf gegen die Politik der Troika und der nationalen Regierung dar. Und auch in Deutschland, können die Bewegungen gegen Zwangsräumung, etwa in Berlin oder Hamburg, erste große Mobilisierungserfolge für sich verbuchen. Gleichzeitig ist dieses Thema offensichtlich kein nationales oder regionales Thema, sondern stark mit der europäischen Finanzmarktintegration sowie der aktuellen Krise verbunden. In allen Metropolen der EU sehen sich die BewohnerInnen enormen Mieterhöhungen und Zwangsräumungen ausgesetzt, wobei der Klassencharakter dieser strukturellen Aufwertungsprozesse stark und offensichtlich hervortritt. Damit ist der Konflikt um bezahlbaren Wohnraum auch diskursiv und medial vermittel- und mit der europäischen Austeritätspolitik verknüpfbar. Ein erster Schritt wäre dabei eine direkte Bezugnahme auf die Kämpfe in anderen europäischen Mitgliedsstaaten oder ein gemeinsamer europäischer Aktionstag zur Verhinderung von Zwangsräumungen. Langfristig besitzt das Thema das Potenzial als Bezugspunkt für andere Kämpfe, bspw. Reproduktionskämpfe oder Energiekämpfen zu dienen.

Auf lange Sicht muss es daher das Ziel sein, einen Prozess zu starten, in der die Neugründung Europas auf der Tagesordnung steht.

Literatur

Deppe, Frank (1993): Von der »Europhorie« zur Erosion. Anmerkungen zur Post-Maastricht Krise der EG. In: Felder, Michael/Deppe, Frank (Hrsg.), Zur Post-Maastricht-Krise der Europäischen Gemeinschaft (EG). FEG-Arbeitspapier Nr. 10. Forschungsgruppe Europ. Gemeinschaften (FEG). Marburg. S. 7-62.

Georgi, Fabian/ Kannankulam, John (2012):Das Staatsprojekt Europa in der Krise. Die EU zwischen autoritärer Verhärtung und linken Alternativen, Rosa-Luxemburg-Stiftung Büro Brüssel (Hrsg.), Brüssel.

Jensen, Inga/ Syrovatka, Felix (2013): Das Kapital walzt durch die Städte. Recht auf Stadt Kämpfe um Wohnraum werden zum Kristallisationspunkt für linke Aktivität in Europa. in: analyse und kritik – Zeitung für linke Debatte und Praxis, Nr. 585, 43. Jhg. S. 25.

Gramsci, Antonio (2012): Gefängnishefte. 1. Auflage. Argument-Verl. Hamburg.
Oberndorfer, Lukas (2012): Die Renaissance des autoritären Liberalismus? Carl Schmitt und der deutsche Neoliberalismus vor dem Hintergrund des Eintritts der »Massen« in die europäische Politik, PROKLA 168.

Poulantzas, Nicos (2002): Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, Autoritärer Etatismus. VSA-Verlag, Hamburg.

Ziltener, Patrick, (1999): Strukturwandel der europäischen Integration. Die Europäische Union und die Veränderung der Staatlichkeit, Münster.

in: Neues Deutschland (08.01.2014)