Kategorien
Allgemein Artikel Meinung

Wo ist das Kräfteverhältnis?

Der Artikel erschien am 08. Januar 2014 als Debattenbeitrag im Neuen Deutschland.

Thomas Händel und Frank Puskarev schreiben in ihrem Artikel „Ein sozialistisches Europa?“  vom 26.12.2013 einen kurzen Abriss über die „Europa-Debatte“ in der europäischen Linken. Dabei handeln sie historisch nacheinander verschiedene AkteurInnen dieser Debatte, von Kautsky bis Spirelli , von Habermas bis Huffschmidt ab. Im letzten Abschnitt schlagen die beiden Autoren vor, sich von einer reinen reaktiven Kritik am Krisenmanagement der Europäischen Union zu verabschieden und stattdessen ein „gemeinsames europäisches Alternativprojekt zu formulieren“.

Wie dieses scheinbar „alternative“ Projekt aussehen soll, schieben die beiden Autoren sogleich auch hinter her und skizzieren kurz eine „Konzeption für ein kooperatives, solidarisches Europa“, welche stark an sozialdemokratischen Vorstellungen erinnert. Weder wird die Eigentumsfrage gestellt, noch ist von einer Neugründung Europas die Rede. Vielmehr entpuppt sich dieses, von Händel und Puskarev vorgeschlagene, „Alternativprojekt“, als ein Reformvorschlag für die real existierende Europäische Union, welcher offenbar zur Umsetzung nur noch formuliert werden muss. Dabei übersehen die beiden Autoren nicht nur die jüngsten Diskussionen über ein „Europa von unten“, wie sie derzeit in der europäischen Bewegung gegen die Krisenpolitik der EU geführt werden, sondern auch das reale Kräfteverhältnis in der Europäischen Union. Es reicht daher für die Formulierung eines Alternativprojektes nicht aus, sich ausschließlich auf die Klassiker sozialistischer und sozialdemokratischer Europadiskussion zu beziehen, sondern es benötigt vielmehr eine Analyse der Kräfteverhältnisse auf der europäischen Ebenen und einen Blick auf die Geschichte der Europäischen Union.

Die EU als Elitenprojekt verstehen

Der europäische Integrationsprozess war von Anfang ein Elitenprojekt. Nach dem zweiten Weltkrieg waren es europäische und US-amerikanische Eliten aus dem ökonomischen und politischen Bereich, wie etwa der Politiker Jean Monnet oder das Netzwerk „American Europeanists“ , welche den Integrationsprozess fokussierten und verfolgten.  Mit dem Ende der „Euroskleorose“ (Deppe) und dem Scheitern der keynesianisch-korporatistischen Integrationsweise, Mitte der 1980er Jahre, entwickelte sich die Europäische Gemeinschaft (EG) zu einem wichtigen Stützpunkt europäisierter und transnationalisierter Kapitalfraktionen, was sich in der „wettbewerbsstaatlichen Integrationsweise“ (Ziltener) und der Durchsetzung eines europäischen neoliberalen Hegemonieprojektes äußerte. Netzwerke wie der European Round Tabel of Industrials, der sich aus Repräsentanten der 50 führenden europäischen Industriekonzernen zusammensetzte, waren federführend an den wichtigsten europäischen Projekten, wie etwa dem Binnenmarktprojekt beteiligt. Dies führte dazu, dass europäische und transanationale Institutionen und Organisationen, wie der EuGH, die Europäische Kommission oder europäische Agenturen wie FRONTEX etc. deutlich an Bedeutung gewonnen haben, während gleichzeitig Institutionen wie das Europäische Parlament im Institutionenensemble der EU eine nachgeordnete, marginale Rolle spielen und sich eine wirkliche europäische Zivilgesellschaft im Sinne Gramscis sich nicht herausbilden konnte. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass die europäische Ebene aufgrund ihrer Konstruktion eine starke strukturelle Selektivität für europäisierte Kapitalfraktionen aufweist, d.h. Vorschläge dieser Kapitalfraktionen mehr Gehör finden und sich dieser angenommen werden als andere. Gewerkschaften und NGOs können oftmals ihre Interessen nur vermittelt über die nationalen Regierungen in der EU äußern, womit ihnen mit der europäischen Ebene ein wichtiges Kampffeld fehlt.

Kräfteverhältnisse analysieren

Der Vorschlag eines „Alternativprojektes“ von Händel und Puskarev übersieht zudem die Ergebnisse der jüngeren kritischen Europaforschung, wie sie etwa in der Forschungsgruppe Europäische Union in Marburg oder die Forschungsgruppe „Staatsprojekt Europa“ in Frankfurt zu Tage gefördert wurden. Diese lassen erkennen, dass sich die neoliberale Integrationsweise in der Krise vielmehr verschärft und autoritär zugespitzt hat. Wichtige wirtschaftliche und politische Kompetenzen, welche auf der nationalen Ebene durch demokratisch gewählte Parlamente ausgeübt wurden, sind im Zuge der Krisenpolitik an die europäische Ebene abgegeben worden und werden nun in demokratisch nicht legitimierten Institutionen, wie etwa der Europäischen Kommission verhandelt. Gleichzeitig werden durch die Austeritätspolitik der EU die Gewerkschaften in den Mitgliedsländern geschwächt, die Mindestlöhne gesenkt und die Tarifautonomie geschleift. Der Gewerkschaftsforscher Thorsten Schulten spricht gar von einem „neuen europäischen Interventionismus“ der EU in die nationale Tarifpolitik zur Ungunsten der Lohnabhängigen und Lukas Oberndorfer von der Arbeiterkammer in Wien sieht in der aktuellen Krisenpolitik der EU eine „Radikalisierung des neoliberalen Projekts“  in der die Wettbewerbspolitik autoritär durchgesetzt und institutionell verankert wird.

Interessant ist dabei, dass vor allem jene Volkswirtschaften betroffen sind, in denen das nationale Kräfteverhältnis eine neoliberale Umstrukturierung in dieser Form in Vorkrisenzeiten verhindert hätte. Dadurch werden die Handlungsmöglichkeiten für die Subalternen, ihre Interesse auf der europäischen Ebene zu artikulieren noch weiter eingeschränkt, da die Krisenpolitik der EU auch in die Kräfteverhältnisse in den Mitgliedsstaaten eingreift. Die Krisenbearbeitung durch die europäischen Eliten ist dabei allein auf die Wettbewerbsfähigkeit des europäisierten und transnational orientierten Kapitals ausgerichtet und verfolgt hauptsächlich den Umbau der nationalen Volkswirtschaften zu Exportwirtschaften (vgl. Streeck).

Ein „Alternativprojekt“, was eine Reform der Europäischen Union im sozialdemokratischen Sinne vorschlägt, übersieht genau dieses verfestigte und institutionell auf europäischer Ebene abgesicherte Kräfteverhältnis. Die Institutionen der EU sind vielmehr zu stark vermachtet und die neoliberale Ausrichtung in den europäischen Verträgen (bspw. Lissabon-Vertrag) festgeschrieben, als das eine sozialdemokratische Reform der EU möglich wäre. Ein gegen-hegemoniales Projekt muss vielmehr aus der fragmentierten europäischen Zivilgesellschaft, d.h. aus den verschiedenen Bewegungen und Kämpfen heraus entwickelt werden, welche die beiden Autoren ebenso übersehen.

„Europa von unten“

Es muss den beiden Autoren zugestimmt werden, dass die europäische Linke nicht in einer reaktiven Kritik der europäischen Austeritätspolitik stehen bleiben darf. Das „Staatsprojekt Europa“ (Kannankulam) steht zur Disposition und somit ist der Diskurs über die Zukunft Europas wirkungsmächtig und für die Artikulation von Hegemonieprojekten offener den jemals zuvor. Dieses „gegen-hegemoniale Projekt“ (Gramsci) darf dabei nicht auf eine Reformierbarkeit der real existierenden Europäischen Union hoffen, sondern sollte klar für eine Neugründung Europas von unten forcieren und eine andere europäische Politik der Menschen in den Vordergrund stellen. Die Diskussionen über einen konstituierenden Prozess wie sie derzeit v.a. in Spanien geführt werden, können dafür ein Anfang sein. Dort werden die verschiedenen Forderungen nicht an die staatlichen Institutionen oder an die politischen und ökonomischen Eliten gerichtet, sondern im Gegenteil ein Prozess gestartet, welcher die Schaffung einer „“echten Demokratie“ (Abensour) anstrebt.

Ein gesamteuropäischer Diskurs für ein Europa von unten benötigt jedoch eine gemeinsame Begegnung und eine stärkere Vernetzung von Bewegung, Parteien und Gewerkschaften auf europäischer Ebene. Dabei können die Vernetzungen im Zuge des Blockupy-Protestes sowie die gemeinsamen europäischen Aktionstage, am 01.06.2013 oder auch der gemeinsame südeuropäische Generalstreik im November 2012, als erste Erfolge gewertet werden. Dabei müssen die verschiedenen Bewegungen und Forderungen in Europa gebündelt und europäpisch „gewendet“ werden.

Dafür scheint sich das Aktionsfeld „Wohnraum“ anzubieten. Seit Beginn der europäischen Krise sind die Protestbewegungen für bezahlbaren Wohnraum und gegen Zwangsräumungen in ganz Europa stark gewachsen. Gerade in Spanien stellt die „Plataforma de los Afectadas por la Hipoteca“ einen der Hauptakteure im Kampf gegen die Politik der Troika und der nationalen Regierung dar. Und auch in Deutschland, können die Bewegungen gegen Zwangsräumung, etwa in Berlin oder Hamburg, erste große Mobilisierungserfolge für sich verbuchen. Gleichzeitig ist dieses Thema offensichtlich kein nationales oder regionales Thema, sondern stark mit der europäischen Finanzmarktintegration sowie der aktuellen Krise verbunden. In allen großen Metropolen der EU sehen sich die BewohnerInnen enormen Mieterhöhungen und Zwangsräumungen ausgesetzt, wobei der Klassencharakter dieser strukturellen Aufwertungsprozesse stark und offensichtlich hervortritt. Damit ist der Konflikt um bezahlbaren Wohnraum auch diskursiv und medial vermittel- und mit der europäischen Austeritätspolitik verknüpfbar. Ein erster Schritt wäre dabei eine direkte Bezugnahme auf die Kämpfe in anderen europäischen Mitgliedsstaaten oder ein gemeinsamer europäischer Aktionstag zur Verhinderung von Zwangsräumungen. Langfristig besitzt das Thema das Potenzial als Bezugspunkt für andere Kämpfe, bspw. Reproduktionskämpfe oder Energiekämpfen zu dienen. Auf lange Sicht muss es daher das Ziel sein, einen Prozess zu starten, in der die Neugründung Europas auf der Tagesordnung steht.