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Wo ist das Kräfteverhältnis?

Der Artikel erschien am 08. Januar 2014 als Debattenbeitrag im Neuen Deutschland.

Thomas Händel und Frank Puskarev schreiben in ihrem Artikel „Ein sozialistisches Europa?“  vom 26.12.2013 einen kurzen Abriss über die „Europa-Debatte“ in der europäischen Linken. Dabei handeln sie historisch nacheinander verschiedene AkteurInnen dieser Debatte, von Kautsky bis Spirelli , von Habermas bis Huffschmidt ab. Im letzten Abschnitt schlagen die beiden Autoren vor, sich von einer reinen reaktiven Kritik am Krisenmanagement der Europäischen Union zu verabschieden und stattdessen ein „gemeinsames europäisches Alternativprojekt zu formulieren“.

Wie dieses scheinbar „alternative“ Projekt aussehen soll, schieben die beiden Autoren sogleich auch hinter her und skizzieren kurz eine „Konzeption für ein kooperatives, solidarisches Europa“, welche stark an sozialdemokratischen Vorstellungen erinnert. Weder wird die Eigentumsfrage gestellt, noch ist von einer Neugründung Europas die Rede. Vielmehr entpuppt sich dieses, von Händel und Puskarev vorgeschlagene, „Alternativprojekt“, als ein Reformvorschlag für die real existierende Europäische Union, welcher offenbar zur Umsetzung nur noch formuliert werden muss. Dabei übersehen die beiden Autoren nicht nur die jüngsten Diskussionen über ein „Europa von unten“, wie sie derzeit in der europäischen Bewegung gegen die Krisenpolitik der EU geführt werden, sondern auch das reale Kräfteverhältnis in der Europäischen Union. Es reicht daher für die Formulierung eines Alternativprojektes nicht aus, sich ausschließlich auf die Klassiker sozialistischer und sozialdemokratischer Europadiskussion zu beziehen, sondern es benötigt vielmehr eine Analyse der Kräfteverhältnisse auf der europäischen Ebenen und einen Blick auf die Geschichte der Europäischen Union.

Die EU als Elitenprojekt verstehen

Der europäische Integrationsprozess war von Anfang ein Elitenprojekt. Nach dem zweiten Weltkrieg waren es europäische und US-amerikanische Eliten aus dem ökonomischen und politischen Bereich, wie etwa der Politiker Jean Monnet oder das Netzwerk „American Europeanists“ , welche den Integrationsprozess fokussierten und verfolgten.  Mit dem Ende der „Euroskleorose“ (Deppe) und dem Scheitern der keynesianisch-korporatistischen Integrationsweise, Mitte der 1980er Jahre, entwickelte sich die Europäische Gemeinschaft (EG) zu einem wichtigen Stützpunkt europäisierter und transnationalisierter Kapitalfraktionen, was sich in der „wettbewerbsstaatlichen Integrationsweise“ (Ziltener) und der Durchsetzung eines europäischen neoliberalen Hegemonieprojektes äußerte. Netzwerke wie der European Round Tabel of Industrials, der sich aus Repräsentanten der 50 führenden europäischen Industriekonzernen zusammensetzte, waren federführend an den wichtigsten europäischen Projekten, wie etwa dem Binnenmarktprojekt beteiligt. Dies führte dazu, dass europäische und transanationale Institutionen und Organisationen, wie der EuGH, die Europäische Kommission oder europäische Agenturen wie FRONTEX etc. deutlich an Bedeutung gewonnen haben, während gleichzeitig Institutionen wie das Europäische Parlament im Institutionenensemble der EU eine nachgeordnete, marginale Rolle spielen und sich eine wirkliche europäische Zivilgesellschaft im Sinne Gramscis sich nicht herausbilden konnte. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass die europäische Ebene aufgrund ihrer Konstruktion eine starke strukturelle Selektivität für europäisierte Kapitalfraktionen aufweist, d.h. Vorschläge dieser Kapitalfraktionen mehr Gehör finden und sich dieser angenommen werden als andere. Gewerkschaften und NGOs können oftmals ihre Interessen nur vermittelt über die nationalen Regierungen in der EU äußern, womit ihnen mit der europäischen Ebene ein wichtiges Kampffeld fehlt.

Kräfteverhältnisse analysieren

Der Vorschlag eines „Alternativprojektes“ von Händel und Puskarev übersieht zudem die Ergebnisse der jüngeren kritischen Europaforschung, wie sie etwa in der Forschungsgruppe Europäische Union in Marburg oder die Forschungsgruppe „Staatsprojekt Europa“ in Frankfurt zu Tage gefördert wurden. Diese lassen erkennen, dass sich die neoliberale Integrationsweise in der Krise vielmehr verschärft und autoritär zugespitzt hat. Wichtige wirtschaftliche und politische Kompetenzen, welche auf der nationalen Ebene durch demokratisch gewählte Parlamente ausgeübt wurden, sind im Zuge der Krisenpolitik an die europäische Ebene abgegeben worden und werden nun in demokratisch nicht legitimierten Institutionen, wie etwa der Europäischen Kommission verhandelt. Gleichzeitig werden durch die Austeritätspolitik der EU die Gewerkschaften in den Mitgliedsländern geschwächt, die Mindestlöhne gesenkt und die Tarifautonomie geschleift. Der Gewerkschaftsforscher Thorsten Schulten spricht gar von einem „neuen europäischen Interventionismus“ der EU in die nationale Tarifpolitik zur Ungunsten der Lohnabhängigen und Lukas Oberndorfer von der Arbeiterkammer in Wien sieht in der aktuellen Krisenpolitik der EU eine „Radikalisierung des neoliberalen Projekts“  in der die Wettbewerbspolitik autoritär durchgesetzt und institutionell verankert wird.

Interessant ist dabei, dass vor allem jene Volkswirtschaften betroffen sind, in denen das nationale Kräfteverhältnis eine neoliberale Umstrukturierung in dieser Form in Vorkrisenzeiten verhindert hätte. Dadurch werden die Handlungsmöglichkeiten für die Subalternen, ihre Interesse auf der europäischen Ebene zu artikulieren noch weiter eingeschränkt, da die Krisenpolitik der EU auch in die Kräfteverhältnisse in den Mitgliedsstaaten eingreift. Die Krisenbearbeitung durch die europäischen Eliten ist dabei allein auf die Wettbewerbsfähigkeit des europäisierten und transnational orientierten Kapitals ausgerichtet und verfolgt hauptsächlich den Umbau der nationalen Volkswirtschaften zu Exportwirtschaften (vgl. Streeck).

Ein „Alternativprojekt“, was eine Reform der Europäischen Union im sozialdemokratischen Sinne vorschlägt, übersieht genau dieses verfestigte und institutionell auf europäischer Ebene abgesicherte Kräfteverhältnis. Die Institutionen der EU sind vielmehr zu stark vermachtet und die neoliberale Ausrichtung in den europäischen Verträgen (bspw. Lissabon-Vertrag) festgeschrieben, als das eine sozialdemokratische Reform der EU möglich wäre. Ein gegen-hegemoniales Projekt muss vielmehr aus der fragmentierten europäischen Zivilgesellschaft, d.h. aus den verschiedenen Bewegungen und Kämpfen heraus entwickelt werden, welche die beiden Autoren ebenso übersehen.

„Europa von unten“

Es muss den beiden Autoren zugestimmt werden, dass die europäische Linke nicht in einer reaktiven Kritik der europäischen Austeritätspolitik stehen bleiben darf. Das „Staatsprojekt Europa“ (Kannankulam) steht zur Disposition und somit ist der Diskurs über die Zukunft Europas wirkungsmächtig und für die Artikulation von Hegemonieprojekten offener den jemals zuvor. Dieses „gegen-hegemoniale Projekt“ (Gramsci) darf dabei nicht auf eine Reformierbarkeit der real existierenden Europäischen Union hoffen, sondern sollte klar für eine Neugründung Europas von unten forcieren und eine andere europäische Politik der Menschen in den Vordergrund stellen. Die Diskussionen über einen konstituierenden Prozess wie sie derzeit v.a. in Spanien geführt werden, können dafür ein Anfang sein. Dort werden die verschiedenen Forderungen nicht an die staatlichen Institutionen oder an die politischen und ökonomischen Eliten gerichtet, sondern im Gegenteil ein Prozess gestartet, welcher die Schaffung einer „“echten Demokratie“ (Abensour) anstrebt.

Ein gesamteuropäischer Diskurs für ein Europa von unten benötigt jedoch eine gemeinsame Begegnung und eine stärkere Vernetzung von Bewegung, Parteien und Gewerkschaften auf europäischer Ebene. Dabei können die Vernetzungen im Zuge des Blockupy-Protestes sowie die gemeinsamen europäischen Aktionstage, am 01.06.2013 oder auch der gemeinsame südeuropäische Generalstreik im November 2012, als erste Erfolge gewertet werden. Dabei müssen die verschiedenen Bewegungen und Forderungen in Europa gebündelt und europäpisch „gewendet“ werden.

Dafür scheint sich das Aktionsfeld „Wohnraum“ anzubieten. Seit Beginn der europäischen Krise sind die Protestbewegungen für bezahlbaren Wohnraum und gegen Zwangsräumungen in ganz Europa stark gewachsen. Gerade in Spanien stellt die „Plataforma de los Afectadas por la Hipoteca“ einen der Hauptakteure im Kampf gegen die Politik der Troika und der nationalen Regierung dar. Und auch in Deutschland, können die Bewegungen gegen Zwangsräumung, etwa in Berlin oder Hamburg, erste große Mobilisierungserfolge für sich verbuchen. Gleichzeitig ist dieses Thema offensichtlich kein nationales oder regionales Thema, sondern stark mit der europäischen Finanzmarktintegration sowie der aktuellen Krise verbunden. In allen großen Metropolen der EU sehen sich die BewohnerInnen enormen Mieterhöhungen und Zwangsräumungen ausgesetzt, wobei der Klassencharakter dieser strukturellen Aufwertungsprozesse stark und offensichtlich hervortritt. Damit ist der Konflikt um bezahlbaren Wohnraum auch diskursiv und medial vermittel- und mit der europäischen Austeritätspolitik verknüpfbar. Ein erster Schritt wäre dabei eine direkte Bezugnahme auf die Kämpfe in anderen europäischen Mitgliedsstaaten oder ein gemeinsamer europäischer Aktionstag zur Verhinderung von Zwangsräumungen. Langfristig besitzt das Thema das Potenzial als Bezugspunkt für andere Kämpfe, bspw. Reproduktionskämpfe oder Energiekämpfen zu dienen. Auf lange Sicht muss es daher das Ziel sein, einen Prozess zu starten, in der die Neugründung Europas auf der Tagesordnung steht.

 

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Die lachende Dritte?

Waren die Vorwahlen der Rechten die eigentlichen Präsidentschaftswahlen? François Fillon liegt in den Umfragen vorn. Doch das Kandidatenfeld ist noch nicht vollständig und die Rechnung enthält noch zu viele Unbekannte.

Was für eine Überraschung? Nein eigentlich nicht, auch wenn kaum ein Beobachter geglaubt hätte, dass sich der ehemalige Premierminister François Fillon bei den Vorwahlen der bürgerlichen Rechten in Frankreich durchsetzen wird. Dies lag nicht nur an den Umfragen im Vorfeld, sondern auch an der Polarisierung innerhalb der konservativen Partei. Zu stark repräsentierten Alain Juppé und Nicolas Sarkozy ihren wirtschaftsliberalen bzw. wertkonservativen Parteiflügel, so dass François Fillon in der öffentlichen Wahrnehmung dahinter verschwand. Dabei vertritt gerade er programmatisch beide Fraktionen innerhalb der bürgerlichen Rechten. Sein politisches Programm ist eine Mischung aus marktliberalen und wertkonservativen Ideen und Positionen.

So plant Fillon auf der einen Seite den französischen Sozialstaat weiter kaputtzusparen und Arbeitnehmerrechte zu schleifen. Im Wahlkampf hatte Fillon eine Schockstrategie für die französische Wirtschaft angekündigt und den Gewerkschaften gedroht, sie in ihren Mitsprachrechten zu beschneiden. Als zentrale Ursache für die hohe Arbeitslosigkeit hat er die fehlende Wettbewerbsfähigkeit ausgemacht, die durch hohe steuerliche Entlastungen für Unternehmen sowie eine vollständige Abschaffung der 35-Stunden-Woche wiederhergestellt werden soll. Die Arbeitslosenversicherung soll nach dem Vorbild der deutschen Hartz-Gesetze reformiert werden, um Langzeitarbeitslosigkeit »unattraktiver« zu machen. Zudem möchte der ehemalige Premierminister die Vermögenssteuer abschaffen und das Rentenalter für alle Berufsgruppen auf 65 Jahre hochsetzen. Das Gesundheitssystem soll reformiert und Leistungen der allgemeinen Krankenversicherung auf die Hauptrisiken konzentriert, das heißt um wichtige Leistungen gekürzt werden. Die heutige Gesundheitsministerin Marisol Touraine spricht von Mehrkosten in Höhe von 3200 Euro für jeden Versicherten pro Jahr, sollte der Vorschlag Fillons in die Tat umgesetzt werden. Zudem soll der »überbürokratisierte Staat« entschlackt und mehr als 100 Milliarden Euro an staatlichen Ausgaben eingespart werden.

Auf der anderen Seite vertritt er ein reaktionäres Familien- und Gesellschaftsbild. Als bekennender Unterstützer der homophoben Bewegung Manif pour tous fordert er in seinem Wahlprogramm die Beschränkung der Ehe für alle und die Rücknahme des Adoptionsrechts für Homosexuelle. Einwanderung möchte er stark begrenzen und soziale Leistungen für Asylbewerber einschränken. Sein größtes Thema ist jedoch der Kampf gegen den Islam und die Erhaltung der »christlich-jüdischen Wurzeln und Werte« der eigentlich laizistischen französischen Republik. Schon in seiner Zeit als Premierminister unter Nicolas Sarkozy war Fillon immer wieder mit islamophoben Äußerungen aufgefallen.

Wird so ein Mann nun der neue Präsident Frankreichs, wie viele Medien heute schon spekulieren? Waren die Vorwahlen der Rechten die eigentlichen Präsidentschaftswahlen? Vieles spricht dafür. Trotz der zahlreichen programmatischen Überschneidungen mit dem Programm des rechtsradikalen Front National liegt der konservative Kandidat in aktuellen Umfragen für den ersten Wahlgang mit zwei Prozentpunkten (26 %) vor Marine Le Pen. In der zweiten Runde würde er klar gegen Le Pen gewinnen (67 % und 33 %). Doch allein der Überraschungssieg von François Fillon bei den Vorwahlen sollte einen vorsichtig werden lassen. Denn auch in diesem Fall wird die Rechnung nicht ohne den Wirt gemacht und viele Variablen in dieser Rechnung scheinen heute noch unbekannt.

… und die Sozialdemokraten

So ist etwa das Kandidatenfeld noch lange nicht vollständig. Die Sozialdemokratie wird erst im Januar ihren Kandidaten in eigenen Vorwahlen bestimmen. Auch wenn Umfragen auf Präsident François Hollande oder Premierminister Manuel Valls hindeuten, könnte die Wahl eines linken Kandidaten wie etwa Arnaud Montebourg oder Benoît Hamon die Wahlen noch einmal spannend machen. Nicht vergessen werden darf zudem der Kandidat der Linksfront. In Umfragen rangiert Jean-Luc Mélenchon bei 13 bis 15 Prozent und scheint für viele Linke derzeit der einzige wählbare Kandidat zu sein. Seine Aussichten auf den Einzug in die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen hängen jedoch davon ab, welchen Kandidaten die Sozialdemokraten aufstellen und ob die Kommunisten ihn unterstützen werden.

Ebenso schwer einzuschätzen ist das politische Potenzial des ehemaligen Wirtschaftsministers Emmanuel Macron, der im November seine Kandidatur bekannt gegeben hat. Tausende kommen zu den Treffen seiner Bewegung En Marche! und er selbst gehört trotz der neoliberalen Reformen zu den beliebtesten Politikern des Landes. Seine Chancen hängen letztlich davon ab, welche und wieviel politische Unterstützung er mobilisieren kann. Derzeit spricht vieles dafür, dass der Zentrist François Bayrou zugunsten des ehemaligen Investmentbankers auf eine Kandidatur verzichten wird. Emmanuel Macron, dem derzeit in Umfragen 13 bis 15 Prozent der Stimmen vorhergesagt werden, repräsentiert ein (neo-)liberales und kosmopolitisches Frankreich und damit den programmatischen Gegenentwurf zu Marine Le Pen. Sollte es – worauf vieles hindeutet – im Wahlkampf zu einer Polarisierung zwischen kosmopolitischen und nationalprotektionistischen Gesellschaftsentwürfen kommen, so könnte Emmanuel Macron neben sozialdemokratischen und liberalen WählerInnen auch viele gemäßigte Konservative ansprechen.

Und hier liegt die zweite unbenannte Variable, die einen Sieg von François Fillon gefährden könnte. Denn wenn Fillon Präsident werden will, muss er nicht nur vier Millionen Konservative überzeugen, sondern mindestens 51 Prozent der 44 Millionen Wahlberechtigten. Doch dafür ist zumindest im zweiten Wahlgang die Zustimmung der politischen Linken nötig. Diese zu gewinnen, wird deutlich schwerer werden als noch 2002, als die politische Linke sich kollektiv überwand, den Konservativen Jacque Chirac zu wählen, um Jean-Marie Le Pen zu verhindern. Anders als Chirac jedoch stellt François Fillon für viele Linke heute nicht das kleinere Übel zu Marine Le Pen dar. Selbst für einen Großteil der Sozialdemokratie ist der konservative Kandidat nur schwer wählbar. Viele Linke und Gewerkschafter haben bereits angekündigt, bei einem möglichen Duell zwischen Fillon und Le Pen der Wahlurne fern zu bleiben. Ausschlaggebend dafür sind nicht nur die zahlreichen programmatischen Überschneidungen mit dem Front National. Vielmehr ist es sein ökonomisches Programm, das eine Kampfansage an die Gewerkschaften und die Errungenschaften der französischen Arbeiterbewegung ist.

Die lachende Marine Le Pen

Die lachende Dritte könnte daher Marine Le Pen sein, welche vom Ergebnis der Vorwahlen profitiert. Durch einen nationalkonservativen Kandidaten wie Fillon wird sich der öffentliche Diskurs in Frankreich weiter nach rechts verschieben und gesellschaftspolitische Forderungen des Front National werden enttabuisiert. Bisher konnte der Front National von einem Rechtsschwenk der Konservativen immer profitieren. Zudem stellt Fillon und sein neoliberales Programm genau jenen Typ Politiker dar, von dem ein Großteil der Bevölkerung schon lange nichts mehr erwartet. Als ehemaliger Premierminister unter Nicolas Sarkozy und langjähriger Parteifunktionär der UMP ist er tief mit jenem politischen System verwoben, das von mehr als 83 Prozent als korrupt und dysfunktional abgelehnt wird. Vor allem aber sein ökonomisches Programm wird viele WählerInnen zweifeln lassen, wem sie ihre Stimme in der Stichwahl geben sollen. Vor allem die verunsicherten Mittelschichten und Teile der Arbeiterklasse, die jetzt schon stark mit dem Front National sympathisieren, könnten sich mittelfristig für Marine Le Pen entscheiden. Dies weiß auch Marine Le Pen, die schon kurz nach den Vorwahlen François Fillon scharf angriff und sein Wahlprogramm als Sozialkahlschlag bezeichnete.

Bildquelle: UMP/Flickr. Der Artikel erschien am 06.12.2016 auf dem OXI-Blog.

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Der dritte Weg auf Französisch

Es ist eine Bilderbuchkarriere, wie sie der französische Wirtschaftsminister Emmanuel Macron hingelegt hat. Der Sohn einer Ärztin und eines Medizinprofessors ist ein Musterbeispiel für jenes französische Phänomen, dass Pierre Bourdieu in seinem Buch »Der Staatsadel« analysiert hat: Die Reproduktion der ökonomischen und politischen Eliten des Landes und ihre Vernetzung, welche aufgrund der spezifischen Form ihrer Ausbildung sowie aufgrund der hohen Mobilität innerhalb des Staates sowie zwischen dem Staat und privatwirtschaftlichen Unternehmen entstehen. Der Lebenslauf von Emmanuel Macron ist für diese Art der Reproduktion exemplarisch: Studium an den beiden renommierten Eliteschulen SciencePo und ENA, kurze Mitarbeit im einflussreichen und sozialliberalen Think Tank »Institute Montaigne« und dann vier Jahre bei der Bank Rothschild als Investmentbanker. Danach Berater des Präsidenten in Wirtschafts- und Finanzfragen und letztendlich seit 2014 Wirtschaftsminister unter Manuel Valls.

Er gilt als Kopf der neoliberalen Wende der sozialistischen Regierung und verantwortet viele der angebotspolitischen Reformprojekte unter Francois Hollande. Sowohl der sogenannte Verantwortungspakt, der die Unternehmen von Abgaben in Höhe von 30 Milliarden Euro pro Jahr erleichterte (das sog. CICE-Programm) als auch das Loi Macron, welches eine Flexibilisierung des Kündigungsschutzes sowie eine Lockerung der Nacht- und Sonntagsarbeit vorsieht, gehen auf das Engagement des damaligen Präsidentschaftsberaters und heutigen Wirtschaftsministers zurück. Auch Teilen der umstrittenen Arbeitsrechtsreform Loi El Khomri sind durch das Wirtschaftsministerium und auf Initiative von Emmanuel Macron zustande gekommen. Nicht ohne Grund kam der Präsident des größten französischen Unternehmensverbandes MEDEF bei der Ernennung Macrons zum Wirtschaftsminister ins Schwärmen: »Anders als sein Vorgänger kennt Macron die Unternehmen, er kennt die Marktwirtschaft und er kennt die Globalisierung.«

Erst Präsidentschaftsberater, bald Präsident?

Obwohl Emmanuel Macron von Francois Hollande gefördert wurde, ist er nie in die sozialistische Partei eingetreten. Seine Bindung an die Sozialistische Partei ergibt sich nicht aus seiner Weltanschauung, sondern vielmehr aus der spezifischen Konfiguration seiner (Karriere-)Netzwerke. Nicht unbegründet wurde Emmanuel Macron in Anlehnung an die Theorie des marxistischen Theoretikers Antonio Gramsci »als organischer Intellektueller des transnational agierenden Kapitals« (Syrovatka 2016: 185) bezeichnet, blieb er in der Zeit als Wirtschaftsminister doch vor allem den großen französischen Unternehmen verpflichtet. Diese Unabhängigkeit von der sozialistischen Partei verschaffte ihm in der Vergangenheit viel Beinfreit in der politischen Gestaltung seines Amtes, zugleich konnte er damit auf Distanz zu Manuel Valls und Francois Holland bleiben.

Nun hat der französische Wirtschaftsminister angekündigt, bei den Präsidentschaftswahlen 2017 antreten zu wollen. In der Vergangenheit hatten viele BeobachterInnen einen solchen Schritt erwartet, auch wenn Macron eine Kandidatur immer beharrlich bestritten hatte. Doch schon die Gründung der Bewegungsplattform »En Marche!« im April dieses Jahres war ein deutliches Zeichen für einen solchen Schritt. Eine Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen wäre die Krönung seiner Bilderbuchkarriere und zugleich ist sie die womöglich größte Chance nach den Präsidentschaftswahlen nicht zusammen mit seinem politischen Förderer Francois Hollande in der politischen Bedeutungslosigkeit zu versinken. Die voll auf Macron zugeschnittene »Bewegung« scheint nun das Sprungbrett zu sein, um das sinkende Schiff noch frühzeitig verlassen zu können.

Der dritte Weg

Dabei ist das politische Programm von »En Marche!« bisher noch sehr dünn und wenig konkret. Im Aufruf der Bewegungsplattform stehen vor allem Allgemeinplätze, die auf eine angebotspolitische Wirtschaftspolitik hindeuten, welche von der sozialdemokratischen Reformpolitik des »Dritten Wegs« (Giddens 1999) der 1990er Jahre inspiriert ist. So wird viel von »Blockaden«, »Ohnmacht« und »kollektiver Unfähigkeit« in dem Aufruf gesprochen und eine »Neugründung des Landes und seiner Institutionen« gefordert. Vieles erinnert an die Idee des »Fordern und Fördern« wie sie Gerhard Schröder mit der Agenda2010 verfolgt hat. So wird gleich in der Einleitung diejenigen als Realitätsverweigerer kritisiert, die am Status quo in der Arbeitsmarktpolitik festhalten wollen, obwohl »eine Vielzahl unserer Landsleute […] heute gar keinen Zugang zum Arbeitsmarkt haben«. So meint das sehr professionell gestaltete Werbevideo mit den »Privilegien einzelner auf Kosten von Millionen anderer« auch nicht die Steuer- und Abgabenprivilegien der Unternehmen und Reichen, sondern vielmehr die besonderen Arbeitsrechtsvorschriften und Sozialsysteme für die Bediensteten in ehemaligen Staatsbetrieben oder den Kündigungsschutz und die unbefristeten Arbeitsverträge älterer Arbeitnehmer.

Die Bewegung wird ganz im Sinne des »dritten Weges auch nicht als links oder rechts charakterisiert, sondern als Dritte Kraft«, wie es Macron in seiner Rede auf dem ersten zentralen Treffen der Bewegungsplattform nannte. Man definiere sich nicht über die politische Landschaft heißt es etwa in dem Aufruf, sondern über drei gemeinsame Werte: »Emanzipation durch Arbeit«, dem »Substrat aus Freiheit und Gerechtigkeit« sowie der »innigen und zugleich anspruchsvollen Liebe zu Europa.«

Abseits dieser allgemeinen inhaltlichen Positionen schein »En Marche!« jedoch vielmehr in erster Line das Fundament für die weitere politische Karriere von Emmanuel Macron zu sein. Der Pseudo-Bewegungscharakter von »En Marche!« sowie die fehlende, in Frankreich aber historisch-notwendige, politische Einordung muss zum einen als wahltaktische Reaktion auf die tiefe französische Hegemoniekrise (Syrovatka 2015) verstanden werden. Zum anderen hält sich Macron damit die Möglichkeit offen auch an künftigen Regierungen teilzuhaben. Mit diesem Programm könnte er ebenso auch Wirtschaftsminister einer konservativen Regierung sein, ohne dass dies zu großen Konflikten führen würde. Vielmehr zeigen sich gerade in der Person Macron die machtvollen staatsbürokratischen und ökonomischen Netzwerke, zu welchen Macron seit seiner Ausbildung gehört und welche unabhängig von den beiden Staatsparteien existieren. Denn während Emmanuel Macron in seinem Aufruf für »En Marche!« vorgibt die politische Krise in Frankreich bekämpfen zu wollen, ist er vielmehr selbst Ausdruck ebenjener Krise. Erst die inhaltliche Annährung der beiden Staatsparteien PS und Les Republican und ihre Wandlung in »bloße Kanäle der Popularisierung und Propagierung einer staatlichen Politik, die zum großen Teil außerhalb von ihnen entschieden wird« (Poulantzas 2002: 169) macht einen solchen Politikertypus wie Emmanuel Macron möglich.

Literatur

Giddens, Antony (1999): Der dritte Weg. Erneuerung der sozialen Demokratie. Frankfurt/Main.

Poulantzas, Nicos (2002): Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, autoritärer Etatismus. Hamburg.

Syrovatka, Felix (2016): Die Reformpolitik Frankreichs in der Krise. Arbeitsmarkt- und Rentenpolitik vor dem Hintergrund europäischer Krisenbearbeitung. Wiesbaden.

Syrovatka, Felix (2015): Der Aufstieg der Madame Le Pen. Die Strategie der Front National im Europawahlkampf 2014. In: PROKLA 180 (Die politische Krise in Europa und die Reorganisation der bürgerlichen Kräfte), 45.Jg., H.3, S. 387 – 409.

Bildquelle: Ecole polytechnique Université Paris-Saclay/ Flickr. Der Artikel erschien am 20.07.2016 auf dem OXI-Blog.

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Der Wirtschaftsminister und das Ei!

Der französische Wirtschaftsminister Emanuel Macron wurde gestern beim Besuch eines Postamtes von CGT-Aktivisten mit einem Ei beworfen (https://www.youtube.com/watch?v=85TpZ51jxsA). Die aufgebrachte Menge blockierte das Postamt um Macron zu Rede zu stellen, wurde dann aber von der Polizei abgedrängt. Es hagelte Eier und Flaschen.

Was eigentlich nur eine Randnotiz ist, macht jedoch deutlich wie stark die Konfrontation zwischen den Streikenden und der Regierung mittlerweile ist. Der Unternehmensverband MEDEF hatte den CGT letzten Freitag als Terroristen beschimpft und für ein hartes Eingreifen der staatlichen Repressionsorgane plädiert. Die Streiks, so der einheitliche Tenor von rechten Parteien, Unternehmensverbänden und Presse verhindern das Wirtschaftswachstum und sind für die weitere wirtschaftliche Entwicklung des Landes verantwortlich. Und auch die sozialdemokratische Regierung droht den streikenden Gewerkschaften. Trotz der massiven Polizeirepression in den letzten Tagen, sieht Sie mittlerweile die Europameisterschaft „ernsthaft in Gefahr“ wie der Figaro berichtet und fordert alle Franzosen auf, sich „solidarisch“ zu verhalten und die Streikenden nicht zu unterstützen.

Bei seinem Besuch bei Alexis Tsipras forderte etwa Manuel Valls die Gewerkschaften auf, Frankreich nicht in „Geiselhaft zu nehmen“. Die Reformen seien notwendig, um „Frankreich wieder stark zu machen“. Doch die linken Gewerkschaften denken nicht daran sich von den Regierenden einschüchtern zu lassen und ihren Streik aufzuheben. Vielmehr sind seit Montag die Piloten von Air France im Streik und auch die Beschäftigten des SNCF haben ihre Streikmaßnahmen nochmals verstärkt.

Dennoch bleibt die Situation verfahren. Die Regierung bleibt gegenüber den Protestierenden hart und lenkt nicht ein. Vielmehr muss davon ausgegangen werden, dass das Loi El Khomri nächste Woche im Senat sogar nochmal verschärft wird. Denn dort gibt es eine Mehrheit, für die das Gesetz mittlerweile zu abgeschwächt ist. Die Gewerkschaften und linken Parteien mobilisieren nun für den 14.Juni, der Tag an dem das Gesetz im Senat behandelt wird. Es ist davon auszugehen, dass es eine große Mobilisierung wird und hunderttausende auf den Straßen im Land demonstrieren werden. Jedoch müssen die Gewerkschaften und linken Parteien diesmal deutlich mehr Menschen auf die Straße bringen als bisher und über ihr derzeitiges Mobilisierungsniveau herauskommen. Denn trotz der beeindruckenden Bilder scheint weiterhin die Faustregel zu gelten, dass ein Gesetzesvorhaben nur wackelt, wenn mehr als eine Millionen Menschen landesweit auf der Straße sind. Das war bisher noch nicht der Fall, auch wenn die Gewerkschaften oftmals ihr Traumresultat schon verkündet hatten.

Ob dies ohne die sozialdemokratische CFDT überhaupt gelingen kann ist fraglich und wird sich wohl erst am 14. Juni zeigen. Ich bin eher skeptisch und glaube, dass die magische Grenze der eine Millionen nur mit einem ungeheuren Kraftaufwand mobilisiert werden könnte. Dennoch ist die Mehrheit der Bevölkerung immer noch gegen das Loi El Khomri und vielleicht geht diese Mehrheit ja am 14.Juni auf die Straße.

Photo: laetitiablabla/ Flickr.com

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Mit Notparagraphen gegen die Republik

Jetzt also doch: Was seit Februar spekuliert wird aber von der Regierung Valls und auch von François Hollande in den letzten Wochen immer wieder abgestritten wurde, wird nun Wirklichkeit. Das umstrittene Loi El Khomri soll nun doch mithilfe des Notparagraphen 49.3 durch die Assemblé National geprügelt werden. Der Notparagraph verknüpft die Annahme des Gesetzes mit einem Misstrauensvotum gegen die Regierung. Eine Abstimmung und wirkliche Auseinandersetzung über das Gesetz wird so unterbunden. Ähnlich wie beim Loi Macron zeigt die nun erneute Nutzung des Notparagraphens die Zerrissenheit der Sozialistischen Partei, die ihrer eigenen Regierung nicht mehr folgen will. Denn große Teile der PS-Fraktion in der Assemblé hatte angekündigt gegen das Gesetz zu stimmen, allen voran der linke Flügel Vive La Gauche!. Scheinbar war es Valls und Hollande in den letzten Wochen und Tagen nicht gelungen die Fraktion trotz Drohungen und Einschüchterungsversuchen auf Linie zu bringen.

Die derzeitige Situation zeigt letztendlich, wie kaputt diese Regierung aber auch wie Zerstritten die gesamte politische Linke in Frankreich ist. Das was noch vor 10 Jahren „La Gauche“ genannt wurde, ist heute mehr denn je ein zersplitterter und zerstrittener Haufen. Die Front De Gauche, ein Zusammenschluss aus KPF und Parti de Gauche kann aus dem aktuellen Protesten kaum einen Nutzen ziehen und bietet auch für die abtrünnigen Sozialdemokraten keine politische Alternative.

Zudem offenbart die autoritäre Durchsetzung neoliberaler Reformen erneut die schwere politische Krise, in der sich die V. Republik derzeit befindet. Die Neoliberale Politik ist in Paris nicht mehr konsensfähig, spaltet die sozialistische Partei und ist nur noch mit autoritären Tricks durchsetzbar. Die V.Republik zeigt sich in einem erbärmlichen Zustand, die nun schon zum zweiten Mal nicht mehr in der Lage ist eine gemeinsame Politik zu formulieren. Noch schlimmer aber ist, dass diese Politik klar gegen die Interessen großer Teile der Bevölkerung gerichtet ist und der Neoliberale Charakter nicht einmal mehr verschleiert wird. Dies wird nicht zuletzt ist diese Politik Wasser auf die Mühlen des Front National, sind doch viele Vorschläge der Arbeitsrechtsreform, Forderungen der EU (länderspezifische Empfehlungen im Rahmen des europäischen Semesters) gewesen, welche nun in einer undemokratischen Weise durchgesetzt werden.

Photo: Liberation

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Das Grauen von Paris

Der Artikel erschien in leicht geänderter Form am 17.11.2o15 im Neuen Deutschland

Vor dem Café Bataclan auf dem Boulevard Voltaire versammelten sich am Morgen des 14. November eine Vielzahl an Menschen, um den Opfern der schrecklichen und grausamen Attentate in Paris zu Gedenken. Tags zuvor kam es an der selben Stelle und an anderen Orten in Paris und in der kleinen Vorstadt Saint-Denis zu schweren Anschlägen. Nach Angaben der islamischen Terrororganisation IS waren es 8 Täter, welche im Zentrum Frankreichs ein Blutbad angerichtet und sich teilweise selbst in die Luft gesprengt haben. Es waren Anschläge auf unsere Freiheit zu lachen, zu singen und zu tanzen.

Avenue Voltaire, Les Halles, Place de la Republique, Marais, Bastlille, Boulevard de Magenta – Das sind Orte, an denen sich vor allem ein links-liberales und intellektuelles Bürgertum aufhält – ein alternatives Ausgehviertel wie es in Berlin, Kreuzberg oder den Neukölln sind. Diese Orte mit vielen Bars und Cafés, mit Restaurants und Diskotheken. Es sind Orte, die erst wirklich belebt werden durch die Menschen, die sich dort aufhalten. Das Bataclan etwa ist ein bekanntes und sehr beliebtes Café mit Konzertsaal mit einer langen alternativen Geschichte bis ins 18. Jahrhundert.

Die Terroristen haben also nicht nur einfach irgendwelche Cafés, nicht irgendwelche Konzertsäle und nicht irgendwelche Restaurants angegriffen, sondern ganz konkret welche, in dem diejenigen saßen, die ein linksliberales, offenes und freies Weltbild vertreten. Der Terroranschlag auf Paris war also in erster Linie ein Anschlag gegen ein liberales, offenes und wenn man so will, gegen ein linkes Weltbild.

Law and Order in der Offensive

Dies ist insofern interessant, dass es nun eben nicht das linksliberalen Bürgertum ist, das in der öffentlichen Diskussion nach den Anschlägen den Ton angibt, sondern jene politischen Gestalten, die seit jeher in Frankreich die politische Hetze und Vorurteile gegen die Muslime und andere Minoritäten schüren. Es sind die Le Pens und Sarkozys, welche nun sich als erstes zu Wort gemeldet haben und mit ihren Vorschlägen genau jene Freiheiten weiter beschneiden wollen gegen die sich die Terroranschläge richteten. Marine Le Pen, die Vorsitzende des Front National forderte noch in der Terrornacht, während die Toten noch nicht einmal gezählt waren, die Schließung von verdächtigen Moscheen und die schnelle Abschiebung bzw. der Entzug der Staatsbürgerschaft von Terrorverdächtigen . Und auch Nicolas Sarkozy, ehemaliger französischer Präsident und Vorsitzender der konservativen Partei Les Républicains (ehm. UMP), forderte die präventive Internierung von Menschen, welche vom Geheimdienst als potenzielle Terroristen eingestuft werden.

Schon nach den Anschlägen im Januar auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo waren die Sicherheitsvorkehrungen verschärft und die bürgerlichen Freiheiten massiv eingeschränkt worden. Paris glich seit Februar einer Festung – Polizei und Militär sind seitdem in der Öffentlichkeit allgegenwärtig. Zudem wurde im Juni dieses Jahres ein Gesetz verabschiedet, welches dem Geheimdienst umfangreiche Kompetenzen zugestand. So ist es den Geheimdiensten nun erlaubt, ohne richterlichen Beschluss, massenhaft die Telefon- und Onlinekommunikation von potenziellen Terroristen zu überwachen. Zudem ist ihnen die Nutzung bestimmter Software und Algorithmen zugestanden worden, um massenhaft Daten sammeln und auswerten zu können. Die Vorratsdatenspeicherung gibt es bspw. seit 2006. Vor allem die französische Rechte aber auch die Sozialdemokraten plädierten für eine stärkere Überwachung, auch wenn vielen bei der Abstimmung mulmig zu Mute war. Ein sozialdemokratischer Abgeordneter sagte gegenüber der französischen Tageszeitung Le Monde, dass dieses Gesetz nie in die Hände autoritärer Regierungen fallen dürfe, weil es so stark die bürgerlichen Freiheiten beschneide.

Die Reaktionen auf diesen Anschlag im November werden wohl ähnlich ausfallen. Die gesamte gesellschaftliche Linke mitsamt der Sozialdemokratie ist in der Defensive. Louis Sarkozy, der Sohn des ehemaligen Präsidenten führte die Terroranschläge auf die laxen Politik gegenüber Muslimen in Frankreich zurück und twitterte: „Die Schwäche und Inkompetenz von Präsident Hollande wird zu einer tödlichen Gefahr für Frankreich“. Und auch in der „normalen“ Bevölkerung wird nun ein härteres Vorgehen gegen Muslime verlangt. Zwar wurden in Lille eine Gruppe Nazis vom einer Trauerveranstaltung gejagt, aber die gesellschaftliche Stimmung gegenüber Muslimen hat ist seit dem Präsidentschaftswahlkampf 2007 vergiftet. So wird dieser Anschlag auch sehr wahrscheinlich Auswirkungen auf die Regionalwahlen im Dezember haben, welche als wichtigster Test vor den Präsidentschaftwahlen gelten. Hier sind ausführliche Bewertungen wohl noch verfrüht, jedoch kann die radikale Rechte und vor allem die Front National auf ein islamophob bestelltes Feld zurückgreifen[1].

Die Ursache von Terror sind Armut und Rassismus

Die Law-and-Order-Politik der französischen Rechten verfehlt jedoch die wirklichen Ursachen und Probleme. Die letzten beiden Terroranschläge wurden nicht von Migranten begannen, sondern von Menschen, die in Frankreich geboren und aufgewachsen waren. Mohamed Merah, der in Toulouse mehrere jüdische SchülerInnen ermordete oder die Kouachi Brüder, welche im Februar die Redaktionsräume von Charlie Hebdo stürmten, waren französische Staatsbürger. Und auch bei den Anschlägen jetzt waren mindestens vier französischer Staatsbürger beteiligt. Einer stammte aus Chartre, einem Dorf 90km von Paris entfernt. Sie vereint neben dem islamischen Terror, die Perspektivlosigkeit und Armut der Banlieues, der Vorstädte, die in jeder großen und mittelgroßen Stadt in Frankreich zu finden sind. Betonwüsten aus den 60er und 70er Jahre wo die Abgehängten, die Ausgestoßenen und Armen der französischen Gesellschaft leben, oftmals kilometerweit entfernt von den Zentren der Städte. Die rassistische Dimension dieser Armutsviertel am Stadtrand zeigt sich schon bei einer Fahrt mit der Metro in die Pariser Peripherique, bei der der Anteil von PoCs mit jeder Stadion, von der man sich vom weißen Zentrum entfernt, erhöht. Dazu kommt ein ausgeprägter antimuslimische Rassismus und die hohe Arbeitslosigkeit in der Gesellschaft.

Der Rassismus und die Vorurteile gegenüber MigrantInnen und Muslime sind tief in der französischen Gesellschaft verankert, welche PoCs in der Öffentlichkeit nur als Fußballspieler und Rapper wahrnimmt. Nach einer jährlichen Umfrage, hielten 63 % den Islam als völlig inkompatibel mit der französischen Nationalität. Der Islam wird in der französischen Wahrnehmung vor allem mit den Begriffen „Ablehnung westlicher Werte“ (28 %), „Fanatismus“ (19 %), „Unterwerfung der westlichen Welt“ (18 %) und „Gewalt“ (8 %) verbunden. Systematische Ausgrenzung, struktureller Rassismus und die hohe Arbeitslosigkeit müssen als Grundursachen für diesen Terrorismus von Franzosen auf französischen Boden betrachtet werden[2]. Diese Probleme lassen sich jedoch nicht einfach wegkärchern, wie es 2006 der damalige Innenminister Nicolas Sarkozy mit Blick auf die Unruhen in den Banlieue forderte.

Vielmehr stellt die Perspektivlosigkeit in den Banlieues den nährreiche Boden für den islamischen Terrorismus dar, welcher den jungen Muslimen zumindest im Jenseits ein besseres Leben verspricht. Bei einer Umfrage vom ICM Research sympathisierten im Juni 2015, 27% der jungen Franzosen zwischen 14 und 24 Jahren mit dem IS[3], 1500 bis 1800 Franzosen haben sich dem IS in Syrien angeschlossen. Soviel wie aus keinem anderen Mitgliedsland der EU.

Francois Hollande hat nun den Krieg gegen den Terror ausgerufen, welchen er mit allen Mitteln führen will. BeobachterInnen sprechen von einem neuen 9/11, einem europäischen 9/11, der langfristig eine Bodenoffensive in Syrien folgen muss. Eine militärische Intervention in Syrien würde jedoch nicht die wirklichen Probleme anpacken. Vielmehr müsste der Kampf gegen den Terror in Frankreich ein Kampf gegen die Perspektivlosigkeit in den Banlieues und ein Kampf gegen die systematische Ausgrenzung in der französischen Gesellschaft sein.

Die Menschen vor dem Bataclan wurden von der Polizei sofort angehalten auseinander zu gehen und sich nicht zu versammeln. Es galt aus Sicherheitsgründen, bis zum Montag ein Versammlungsverbot. Die Menschen folgten den Anweisungen der Polizisten. Sie hinterließen Zettel. Auf einem stand: „Eure Kriege – Unsere Toten!“.

Fußnoten

[1] Vgl. Syrovatka, Felix (2015): Der Aufstieg der Madame Le Pen. Die Strategie der Front National im Europawahlkampf 2014. In: PROKLA 180, 45.Jg., H.3, S. 387 – 409.

 

[2] Hier gibt es sicherlich noch viele weitere Ursachen, die hier nicht beleuchtet werden können.

[3] http://www.zeit.de/politik/ausland/2014-09/islamischer-staat-frankreich-geisel-algerien-toetung