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Für eine Neugründung Europas

Wo ist das Kräfteverhältnis? Eine Antwort auf Thomas Händel und Frank Puskarev

Thomas Händel und Frank Puskarev schreiben in ihrem Artikel »Ein sozialistisches Europa?« einen kurzen Abriss über die »Europa-Debatte« in der europäischen Linken. Dabei handeln sie historisch nacheinander verschiedene AkteurInnen dieser Debatte, von Kautsky bis Spirelli, von Habermas bis Huffschmidt ab. Im letzten Abschnitt schlagen die beiden Autoren vor, sich von einer reinen reaktiven Kritik am Krisenmanagement der Europäischen Union zu verabschieden und stattdessen ein »gemeinsames europäisches Alternativprojekt zu formulieren«.

Wie dieses scheinbar »alternative« Projekt aussehen soll, schieben die beiden Autoren sogleich auch hinterher und skizzieren kurz eine »Konzeption für ein kooperatives, solidarisches Europa«, welche stark an sozialdemokratischen Vorstellungen erinnert. Weder wird die Eigentumsfrage gestellt, noch ist von einer Neugründung Europas die Rede. Vielmehr entpuppt sich dieses, von Händel und Puskarev vorgeschlagenes, »Alternativprojekt«, als ein Reformvorschlag für die real existierende Europäische Union, welcher offenbar zur Umsetzung – so scheint es – nur noch formuliert werden muss. Dabei übersehen die beiden Autoren nicht nur die jüngsten Diskussionen um ein »Europa von unten«, wie sie derzeit in der europäischen Bewegung gegen die Krisenpolitik der EU geführt werden, sondern auch das reale Kräfteverhältnis in der Europäischen Union. Es reicht daher für die Formulierung eines Alternativprojektes nicht aus, sich ausschließlich auf die Klassiker sozialistischer und sozialdemokratischer Europadiskussion zu beziehen, sondern es benötigt vielmehr eine Analyse der Kräfteverhältnisse auf der europäischen Ebenen und einen Blick auf die Geschichte der Europäischen Union.

Die EU als Elitenprojekt verstehen

Anders als die beiden Autoren es formulieren, war der europäische Integrationsprozess von Anfang ein Elitenprojekt. Nach dem zweiten Weltkrieg waren es europäische und US-amerikanische Eliten aus dem ökonomischen und politischen Bereich, wie etwa der Politiker Jean Monnent oder das Netzwerk »American Europeanists«, welche den Integrationsprozess fokussierten und vorantrieben. Mit dem Ende der »Eurosklerose« (Deppe 1993) und dem Scheitern der keynesianisch-korporatistischen Integrationsweise, Mitte der 1980er Jahre, entwickelte sich die Europäische Gemeinschaft (EG) zu einem wichtigen Stützpunkt europäisierter und transnationalisierter Kapitalfraktionen, was sich in der »wettbewerbsstaatlichen Integrationsweise« (Ziltener 1999) und der Durchsetzung eines europäischen neoliberalen hegemonialen Projekts äußerte. Netzwerke wie der European Roundtable of Industrialists, der sich aus Repräsentanten der 50 führenden europäischen Industriekonzernen zusammensetzt, waren federführend an den wichtigsten europäischen Projekten, wie etwa dem Binnenmarktprojekt, beteiligt. Dies führte, vor dem Hintergrund des Aufstiegs des Neoliberalismus und den damit einhergehenden strategischen Neuorientierung des Kapitals, dazu, dass europäische und transnationale Institutionen und Organisationen, wie der EuGH, die Europäische Kommission oder europäische Agenturen wie FRONTEX etc. deutlich an Bedeutung gewonnen haben, während gleichzeitig Institutionen wie das Europäische Parlament im Institutionenensemble der EU eine nachgeordnete, marginale Rolle spielen und sich eine wirkliche europäische Zivilgesellschaft im Sinne Gramscis nicht herausbilden konnte. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass die europäische Ebene aufgrund ihrer Konstruktion eine starke strukturelle Selektivität (Poulantzas 2002) für europäisierte und transnationale Kapitalfraktionen aufweist, d.h. das Vorschläge dieser Kapitalfraktionen mehr Gehör finden und sich ihrer Forderungen stärker angenommen wird als anderer. Gewerkschaften und NGOs können oftmals ihre Interessen nur vermittelt über die nationalen Regierungen in der EU äußern, womit ihnen auf der europäischen Ebene ein wichtiges Kampffeld fehlt.

Kräfteverhältnisse analysieren

Der Vorschlag eines »Alternativprojektes« von Händel und Puskarev übersieht zudem die Ergebnisse der jüngeren kritischen Europaforschung, wie sie etwa in der Forschungsgruppe Europäische Union in Marburg oder die Forschungsgruppe »Staatsprojekt Europa« in Frankfurt zu Tage gefördert wurden. Diese lassen erkennen, dass sich die neoliberale Integrationsweise in der Krise vielmehr verschärft und autoritär zugespitzt hat. Wichtige wirtschaftliche und politische Kompetenzen, welche auf der nationalen Ebene durch demokratisch gewählte Parlamente ausgeübt wurden, sind im Zuge der Krisenpolitik an die europäische Ebene abgegeben worden und werden nun in demokratisch nicht legitimierten Institutionen, wie etwa der Europäischen Kommission verhandelt. Gleichzeitig werden durch die Austeritätspolitik der EU die Gewerkschaften in den Mitgliedsländern geschwächt, die Mindestlöhne gesenkt und die Tarifautonomie geschleift. Der Gewerkschaftsforscher Thorsten Schulten spricht gar von einem »neuen europäischen Interventionismus« der EU in die nationale Tarifpolitik zur Ungunsten der Lohnabhängigen. Auch Lukas Oberndorfer von der Arbeiterkammer in Wien sieht in der aktuellen Krisenpolitik der EU eine »Radikalisierung des neoliberalen Projekts« in der die Wettbewerbspolitik autoritär durchgesetzt und institutionell verankert wird.

Interessant ist dabei, dass von der europäischen Austeritätspolitik vor allem jene Volkswirtschaften betroffen sind, in denen das nationale Kräfteverhältnis eine neoliberale Umstrukturierung in dieser Form in Vorkrisenzeiten verhindert hätte. Durch die Strukturprogramme werden die Handlungsmöglichkeiten für die Subalternen, ihre Interesse auf der europäischen Ebene zu artikulieren noch weiter eingeschränkt, da die Krisenpolitik der EU auch in die Kräfteverhältnisse in den Mitgliedsstaaten eingreift. Die Krisenbearbeitung durch die europäischen Eliten ist dabei allein auf die Wettbewerbsfähigkeit des europäisierten und transnational orientierten Kapitals ausgerichtet und schreibt die politisch-ökonomische Ausrichtung der EU fest.

Ein »Alternativprojekt«, welches eine Reform der Europäischen Union im sozialdemokratischen Sinne vorschlägt, übersieht genau dieses verfestigte und institutionell auf europäischer Ebene abgesicherte Kräfteverhältnis. Die Institutionen der EU sind zu stark vermachtet und die neoliberale Ausrichtung in den europäischen Verträgen (bspw. Lissabon-Vertrag) festgeschrieben, als das eine sozialdemokratische Reform der EU, ohne eine Infragestellung der realexistierenden EU möglich wäre. Ein »Alternativprojekt«, welches das Kräfteverhältnis übersieht schwebt im luftleeren Raum. Ein gegen-hegemoniales Projekt müsste vielmehr aus der fragmentierten europäischen Zivilgesellschaft, d.h. aus den verschiedenen Bewegungen und Kämpfen heraus entwickelt werden, welche die beiden Autoren ebenso übersehen.

»Europa von unten«

Es ist Händel und Puskarev zuzustimmen, wenn sie schreiben, dass die europäische Linke nicht in einer reaktiven Kritik der europäischen Austeritätspolitik verharren darf. Der passive Konsens in der europäischen Bevölkerung zum europäischen Projekt ist aufgezehrt. Das »Staatsprojekt Europa« (Kannankulam/Georgi 2012) steht zur Disposition und somit ist der Diskurs um die Zukunft Europas in der Zivilgesellschaft dominanter und für die Artikulation von Hegemonieprojekten offener den jemals zuvor. Dieses »gegen-hegemoniale Projekt« (Gramsci 2012) darf dabei nicht auf eine Reformierbarkeit der real existierenden Europäischen Union hoffen, sondern sollte klar eine Neugründung Europas von unten forcieren und eine andere europäische Politik der Menschen in den Vordergrund stellen. Hierbei ist eine Zusammenarbeit der emanzipatorischen Kräfte in den Parlamenten und in den Bewegungen gefordert. So scheint mir die Forderung nach einer Versammlung zur Neugründung Europas, nach 30 Jahren Integrationsprozess, als eine Möglichkeit, eine Europa von unten zu konstituieren. (Oberndorfer 2012) Damit könnte ein Forum geschaffen werden, das zum einen ein Ressonanzraum für die verschiedenen europäischen Bewegungen und Kämpfe darstellen könnte und zu anderen das das Vetorecht der Staats- und Regierungschefs im derzeitigen europäischen Entscheidungsverfahren aushebelt. Dies würde bedeuten, dass eine linke Gegenstrategie für ein Europa von Unten jede weitere Vertiefung der europäischen Integration mit der Forderung nach der Schaffung eines neuen Forums für Entscheidungen entgegnet, welches sich durch freie und geheime Wahlen zusammensetzt.

Ein gesamteuropäischer Diskurs für ein Europa von unten benötigt jedoch eine gemeinsame Begegnung und eine stärkere Vernetzung von Bewegung, Parteien und Gewerkschaften auf europäischer Ebene. Dabei können die Vernetzungen im Zuge des Blockupy-Protestes, sowie die gemeinsamen europäischen Aktionstage, am 01.06.2013 oder auch der gemeinsame (süd-)europäische Generalstreik im November 2012, als erste Erfolge gewertet werden. Dabei müssen die verschiedenen Bewegungen und Forderungen in Europa gebündelt und europäisch »gewendet« werden. (Oberndorfer 2012).

Dafür scheint sich das Aktionsfeld »Wohnraum« anzubieten (Jensen/Syrovatka 2013). Seit Beginn der europäischen Krise sind die Protestbewegungen für bezahlbaren Wohnraum und gegen Zwangsräumungen in ganz Europa stark gewachsen. Gerade in Spanien stellt die Plattform der Hypothekenbetroffenen, einen der Hauptakteure im Kampf gegen die Politik der Troika und der nationalen Regierung dar. Und auch in Deutschland, können die Bewegungen gegen Zwangsräumung, etwa in Berlin oder Hamburg, erste große Mobilisierungserfolge für sich verbuchen. Gleichzeitig ist dieses Thema offensichtlich kein nationales oder regionales Thema, sondern stark mit der europäischen Finanzmarktintegration sowie der aktuellen Krise verbunden. In allen Metropolen der EU sehen sich die BewohnerInnen enormen Mieterhöhungen und Zwangsräumungen ausgesetzt, wobei der Klassencharakter dieser strukturellen Aufwertungsprozesse stark und offensichtlich hervortritt. Damit ist der Konflikt um bezahlbaren Wohnraum auch diskursiv und medial vermittel- und mit der europäischen Austeritätspolitik verknüpfbar. Ein erster Schritt wäre dabei eine direkte Bezugnahme auf die Kämpfe in anderen europäischen Mitgliedsstaaten oder ein gemeinsamer europäischer Aktionstag zur Verhinderung von Zwangsräumungen. Langfristig besitzt das Thema das Potenzial als Bezugspunkt für andere Kämpfe, bspw. Reproduktionskämpfe oder Energiekämpfen zu dienen.

Auf lange Sicht muss es daher das Ziel sein, einen Prozess zu starten, in der die Neugründung Europas auf der Tagesordnung steht.

Literatur

Deppe, Frank (1993): Von der »Europhorie« zur Erosion. Anmerkungen zur Post-Maastricht Krise der EG. In: Felder, Michael/Deppe, Frank (Hrsg.), Zur Post-Maastricht-Krise der Europäischen Gemeinschaft (EG). FEG-Arbeitspapier Nr. 10. Forschungsgruppe Europ. Gemeinschaften (FEG). Marburg. S. 7-62.

Georgi, Fabian/ Kannankulam, John (2012):Das Staatsprojekt Europa in der Krise. Die EU zwischen autoritärer Verhärtung und linken Alternativen, Rosa-Luxemburg-Stiftung Büro Brüssel (Hrsg.), Brüssel.

Jensen, Inga/ Syrovatka, Felix (2013): Das Kapital walzt durch die Städte. Recht auf Stadt Kämpfe um Wohnraum werden zum Kristallisationspunkt für linke Aktivität in Europa. in: analyse und kritik – Zeitung für linke Debatte und Praxis, Nr. 585, 43. Jhg. S. 25.

Gramsci, Antonio (2012): Gefängnishefte. 1. Auflage. Argument-Verl. Hamburg.
Oberndorfer, Lukas (2012): Die Renaissance des autoritären Liberalismus? Carl Schmitt und der deutsche Neoliberalismus vor dem Hintergrund des Eintritts der »Massen« in die europäische Politik, PROKLA 168.

Poulantzas, Nicos (2002): Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, Autoritärer Etatismus. VSA-Verlag, Hamburg.

Ziltener, Patrick, (1999): Strukturwandel der europäischen Integration. Die Europäische Union und die Veränderung der Staatlichkeit, Münster.

in: Neues Deutschland (08.01.2014)

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Das Kapital walzt durch die Städte

Als im März dieses Jahres das Volksbegehren gegen Zwangsräumungen angenommen wurde, feierten mehrere tausend Menschen vor dem Parlament in Madrid. Lautstark skandierten sie: »Si se puede« (Ja, wir können es), um deutlich zu machen, dass dies ein zentraler Erfolg im Kampf gegen Zwangsräumungen ist.

Mehr als 1,4 Millionen Menschen hatten ein Volksbegehren unterschrieben, das Zwangsräumungen verbieten soll. Zudem sollen denjenigen die Schulden erlassen werden, die ihre Wohnungen schon verloren haben. Initiator dieser Kampagne war ein Bündnis aus Gewerkschaften, der spanischen Linkspartei Izquierda Unida sowie der Plataforma de los Afectadas por la Hipoteca (PAH, Forum der von Hypotheken Betroffenen). Bei mehr als 200 Zwangsräumungen pro Tag war dieser erste Erfolg der gemeinsamen Mobilisierung deshalb besonders wichtig. Er zeigt, wie tief diese in der Zivilgesellschaft verankert ist und dass die »Politik der perspektivlosen Kürzungen« gestört werden kann. (1)

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Partei der Bewegung

Die Front de gauche im französischen Präsidentschaftswahlkampf

„Marseille ist die französischste Stadt unserer Republik“! Mit diesem Satz begann der französische Präsidentschaftskandidat der Front de gauche, Jean-Luc Mélenchon, seine Rede vor mehr als 120 000 AnhängernInnen am Strand von Marseille. Marseille, das ist in der öffentlichen Diskussion in Frankreich eher die Stadt, die mit einer hohen MigrantInnenanteil, Kriminalität und Armut in Verbindung gebracht wird und für die politische Rechte das Musterbeispiel einer „verfehlte Integrationspolitik“ ist. Dem Selbstbild Frankreichs entspricht Marseille nicht und dennoch sagt dieser Satz sehr viel über Frankreich und den Präsidentschaftskandidaten des linken Wählerbündnises Front de gauche aus. Denn während die französische Öffentlichkeit über die französische Identität sowie über Halalfleisch debattiert und der französische Präsident Nicolas Sarkozy erklärt, dass es „zu viele Ausländer in unserem Land“ gibt, nimmt Jean-Luc Mélenchon, der selbst in Marokko geboren ist, seinen Auftritt in Marseilles zum Anlass, um daran zu erinnern, das Einwanderung eine Chance und keine Bedrohung für Frankreich darstellt. Frankreich gehöre allen, die in diesem Land leben und dies schon seit 2600 Jahren betonte der Kandidat der Front de gauche, mit Blick auf den Gründungsmythos der Stadt Marseille.

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Kein Kurswechsel in Sicht. Die EU setzt weiterhin auf Überwachen und Strafen

Als der italienische Präsident Mario Monti nach dem Eurogipfel Ende Juni 2012 freudestrahlend auf die JournalistInnen zuging, lag dies nicht nur am Erfolg der italienischen Nationalmannschaft gegen die DFB-Auswahl im Halbfinale der Fußball-EM. Er hatte einen Sieg gegen die deutsche Kanzlerin Angela Merkel errungen und ihr, wie es nachher in den deutschen Medien hieß, die »Pistole auf die Brust gesetzt«. Er wusste, dass die Bundeskanzlerin seine Zustimmung zum Wachstumspakt brauchte, um den Fiskalpakt im deutschen Bundestag durchsetzen zu können.

Monti nutzte diese Chance und setzte mit der Drohung, den Wachstumspakt zu blockieren, einen erleichterten Zugang zum Rettungsschirm für angeschlagene Länder durch. Ein Land muss zukünftig zwar die Vorgaben des Fiskalpaktes einhalten und die Anweisungen der Europäischen Kommission fristgerecht erfüllen, um an die Gelder aus dem Rettungsschirm zu kommen. Es werden jedoch keine zusätzlichen Bedingungen gestellt, wie etwa spezielle Anpassungsprogramme.

Gleichzeitig wurde der Forderung Spaniens nachgekommen, Banken durch den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) zu kapitalisieren. Infolge der spanischen Immobilienkrise seit 2007 sitzen spanische Banken derzeit auf unsicheren Immobilienkrediten im Wert von über 150 Milliarden Euro. Spanien hatte sich den Forderungen Italiens nach kurzfristigen Hilfen gegen den Druck der Finanzmärkte angeschlossen. Der Bundestag hatte eine solche Regelung, marode Banken direkt mit Geldern aus dem ESM zu unterstützen, noch zwei Tage vor dem EU-Gipfel abgelehnt; sie galt somit für Angela Merkel als rote Linie.

Dieses Vorgehen gegen die an einer autoritären Sparpolitik ausgerichtete deutsche Dominanz scheint in der europäischen Krisenpolitik eine Zäsur darzustellen. Die Ministerpräsidenten aus Spanien und Italien setzten nicht nur direkte Finanzhilfen für marode Banken sowie erleichterte Zugangsbedingungen zum Rettungsschirm durch. Der Gipfel war auch ein Erfolg des französischen Präsidenten FranÇois Hollande, der seine Ankündigung aus dem Wahlkampf durchsetzte, den Fiskalpakt nicht zu ratifizieren, sollte es keine zusätzlichen Wachstumsimpulse geben.

Auf dem EU-Gipfel wurde auch ein 120 Milliarden Euro schweres Wachstumspaket zur Stimulierung der europäischen Wirtschaft und zur Schaffung von Arbeitsplätzen beschlossen. Der Pakt für Stabilität und Wachstum, wie er offiziell heißt, gleicht dem elfseitigen »Pacte de croissance européen«, den Hollande kurz vor dem EU-Gipfel veröffentlichte, fast im Detail.

Die Gelder stammen dabei hauptsächlich aus schon bestehenden Töpfen und sollen nach Angaben des Ratspräsidenten, Herman van Rompuy, in »unmittelbare Wachstumsmaßnahmen« fließen.

Der Hauptteil der 120 Milliarden Euro wird von der Europäischen Investitionsbank (EIB) kommen, deren Kapital um 10 Milliarden Euro auf insgesamt 60 Milliarden Euro aufgestockt wurde. Weitere 55 Milliarden Euro werden aus dem Haushalt der EU beigesteuert und weitere fünf Milliarden Euro sollen durch sogenannte Projektbonds finanziert werden. Letztere funktionieren ähnlich wie Eurobonds, die die deutsche Bundesregierung vehement ablehnt, da die Mitgliedsstaaten ein gemeinsames finanzielles Risiko übernehmen. Allerdings sind Projektbonds zeitlich und auf bestimmte Investitionsprojekte begrenzt, etwa grenzübergreifende Strom- oder Straßennetze.

Weiter auf Austeritätskurs

Es scheint, als wäre die deutsche Bundesregierung nach den Wahlen in Frankreich mit ihrer einseitigen Austeritätspolitik isoliert. Tatsächlich ist der Konflikt um den gegenwärtigen Kurs jedoch weitaus weniger grundlegend: Der Wachstumspakt bedeutet keine Abkehr vom Primat der Austeritätspolitik. Es geht lediglich um die Frage, ob diese durch wachstumsfördernde Maßnahmen ergänzt werden soll. Autoritäre Austeritätspolitik bleibt in beiden Fällen fest im europäischen Staatsapparateensemble verankert und wird – im Schatten der Debatten um Wachstum – sogar weiter verschärft.

Die neueste Initiative in diesem Sinne klingt wie ein Rapper aus den USA und steht für autoritäre Hausaufgabenkontrolle: Two Pack. Die Europäische Kommission soll künftig noch mehr Macht zur Überwachung der nationalen Haushalte bekommen. Die extrem neoliberal ausgerichtete Generaldirektion Wirtschaft und Finanzen (ECFIN) wird erneut gestärkt. Die Ausrichtung der Überwachung ist damit vorgezeichnet.

Der Two Pack verschärft den sogenannten Six Pack aus dem vergangenen Jahr. Dieser bezeichnete ein Bündel von Gesetzgebungsmaßnahmen, die deutlich härtere Sanktionen gegen sogenannte Defizitsünder vorsahen und der Europäischen Kommission erhebliche Kompetenzen übertrugen. Die demokratisch nicht legitimierte Kommission kann seither Sanktionen gegen Mitgliedsstaaten verhängen, die die Grenzen für das Haushaltsdefizit von drei Prozent des Bruttonationaleinkommens (BNP) sowie der Staatsverschuldung von 60 Prozent überschreiten.

Ein weiterer Vorläufer des Two Pack ist das europäische Semester: In diesem legen die Nationalstaaten der Europäischen Kommission nationale Reformprogramme zur Bewertung vor. Die Bewertung der Kommission hat eine deutliche Schlagseite: Empfohlen wurde etwa, Gewerkschaftsrechte einzuschränken, Rentenalter zu erhöhen, Sozialsysteme zusammenzustreichen, Arbeitgeber steuerlich zu entlasten und dafür indirekte Steuern (z.B. Mehrwertsteuern) zu erhöhen, die vor allem sozial Schwache belasten. (ak 564)

Der Two Pack soll der Kommission nun weitere Kompetenzen zugestehen: Sie soll künftig die Haushaltspläne der Mitgliedsstaaten der Eurozone überwachen und – noch bevor die nationalen Parlamente darüber abgestimmt haben – Änderungsvorschläge formulieren können. Entspricht der Haushalt nicht den Wünschen der Kommission, kann sie eine überarbeitete Version mit konkreteren Plänen zu Schuldenreduzierung einfordern. Mitgliedstaaten, die »in finanziellen Schwierigkeiten stecken« oder Gelder aus europäischen Rettungsfonds, des IWF oder einer anderen internationalen Institution erhalten, sollen kontinuierlich überwacht werden.

Die Entscheidung, ab wann ein Staat in »finanziellen Schwierigkeiten« steckt, soll laut Europäischem Parlament mit dem 2011 entwickelten Verfahren der »umgekehrten Abstimmung einer qualifizierten Mehrheit« beschlossen werden. Dieses Verfahren stellt die »Demokratie auf den Kopf«: Die Entscheidung der demokratisch nicht legitimierten Kommission gilt als angenommen, wenn ihr nicht innerhalb von zehn Tagen eine Mehrheit des Rats der Wirtschafts- und Finanzminister (ECOFIN) widerspricht. Die Kommission schlug eine noch autoritärere Lösung vor: Sie wollte alleine über die Frage »finanzieller Schwierigkeiten« entscheiden.

Entdemokratisierung

Der Two Pack ersetzt repräsentative Demokratie durch Hausaufgabenkontrolle: Die Diskussion von Haushalten wird auf technokratische Institutionen verlagert. Anstelle einer demokratischen Auseinandersetzung um politische Zielsetzungen wird lediglich kontrolliert, inwiefern Staaten ihre »Hausaufgaben gemacht« (Wolfgang Schäuble) haben. Die Regeln, nach denen die Hausaufgabenkontrolle erfolgt, sind politischer Diskussion kaum zugänglich, da neoliberale Zielsetzungen seit den 1980er Jahren fest in europäischen Verträgen und Institutionen wie der EZB eingeschrieben sind. Nationale Regierungen und Parlamente müssen spätestens seit der autoritären europäischen Wirtschaftsregierung im Kontext der Eurokrise ihre Politik daran orientieren, wollen sie nicht die Sanktionen der Europäischen Kommission zu spüren bekommen. (Nationale) Parlamente verlieren drastisch an Einflussmöglichkeiten.

Ein weiteres Beispiel dafür, dass von einem Kurswechsel trotz Wachstumspakt keine Rede sein kann, zeigen die jüngsten Aussagen von EZB-Chef Mario Draghi und die Entwicklungen in Spanien. Der spanische Ministerpräsident Mariano Rajoy erklärte zum EU-Gipfel im Juni 2012 noch selbstbewusst, die »Men in Black« der Troika aus Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds kämen nicht nach Spanien. Spanien habe seine »Hausaufgaben« gemacht und eine »Einmischung von außerhalb« verhindert.

Die Realität sieht offensichtlich anders aus: Bereits einen Tag nach der Inanspruchnahme von Geldern der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) verkündete die spanische Regierung am 11.7.2012 ein drastisches Sparprogramm. Unter anderem wurden Entgelte im öffentlichen Dienst gekürzt und zahlreiche Stellen gestrichen. Die Mehrwertsteuer soll auf 21 Prozent angehoben werden. Das Arbeitslosengeld wurde reduziert. Man sei in »einem der dramatischsten Momente Spaniens« erklärte die Regierung, man wisse, dass die Maßnahmen schmerzen, aber es gebe »keine Alternative«.

Während der Kommissar der Generaldirektion ECFIN der Europäischen Kommission, Olli Rehn, die Maßnahmen als »entschlossenen Schritt« begrüßte, stoßen sie innerhalb der spanischen Gesellschaft auf massiven Protest. Gewerkschaften und die Bewegung des 15. Mai riefen in der Woche nach der Bekanntgabe des Kürzungsprogramms fast täglich zu Demonstrationen auf. Hinzu kamen spontane Proteste Betroffener, die unter anderem Straßen in Madrid blockierten. Auch von ÖkonomInnen und Teilen der Privatwirtschaft wird das Sparpaket skeptisch beurteilt. Es gebe einen »Konsens innerhalb der Ökonomen, dass das nicht das Paket sei, das Spanien benötige«, erklärte etwa der Analyst der IG Markets, Daniel Pingarrón, gegenüber der Zeitung El País. José Carlos Díez, Chefökonom von Intermoney, ergänzte: Das Sparprogramm sei dazu da, »die Troika zufriedenzustellen und nicht die Investoren«.

Keine soziale Verbesserung

Trotz leicht veränderter Kräfteverhältnisse, die sich aus dem selbstbewussten Auftreten von Mario Monti und der Neuwahl François Hollandes in Frankreich ergeben, ist ein Ende der Eurokrise weiterhin nicht in Sicht. Mit dem Wachstumspakt wird zwar anerkannt, dass die bisherigen Krisenlösungsstrategien in erster Linie die Rezession verstärkten, die Notwendigkeit einer Abkehr von der bisher verfolgten autoritären Austeritätspolitik wird daraus jedoch nicht geschlossen. Folge ist die paradoxe Situation, in der derzeit unter anderem Spanien steckt: Während einerseits, um der Rezession zu begegnen, Investitionen nicht nur von Gewerkschaften, sondern auch von Ratingagenturen und »Experten« eingefordert werden, werden andererseits die Möglichkeiten, ein solches Programm zu finanzieren, durch die Disziplinierung durch Märkte und Ratingagenturen sowie das Bausteinsystem europäischer Austeritätspolitik drastisch eingeschränkt. Solange diese Situation nicht aufgehoben wird, wird sich für die alltäglichen sozialen Krisen breiter Teile der Bevölkerungen in der EU keine grundlegende Verbesserung einstellen – egal, ob sich Hollande, Monti oder Merkel auf Gipfeln durchsetzen.

Mit Nikolai Huke in: analyse & kritik 574